Cécile Tlili: Ein Sommerabend
Aus dem Französischen von Norma Cassau.
Kein & Aber, 2024.
192 Seiten, 21 Euro.
Ein lauer Abend am Ende eines heißen Augusttages in Paris. Zwei Pärchen treffen sich. Es soll ein gemütliches Abendessen werden, fast alle kennen sich seit vielen Jahren. So weit, so harmlos. So richtig Lust aber hat keiner von ihnen auf das gesellige Dinner. Und eine hat sogar regelrecht Panik: Claudia.
"Verblassen, Verschwinden. Sich nicht den neugierigen oder gleichgültigen Blicken aussetzen, sich die Peinlichkeit ersparen, in den Augen ihrer Gesprächspartner Langeweile aufziehen zu sehen, sobald sie zu sprechen beginnt."
Claudia ist die Freundin von Étienne, die beiden wohnen in dessen riesiger Pariser Wohnung. Das Abendessen war Étiennes Idee. Claudia und Étienne sind sehr unterschiedlich, sie ist extrem schüchtern und unsicher, er kommt aus gutem Hause, ist gebildet, charmant, weitgereist.
Eingeladen sind Étiennes langjährige Freunde Rémis, ein liebenswerter, immer lachender Lehrer, und Johar, knallharte Managerin eines großen Konzerns. Sie ist eine echte Erscheinung, selbstbewusst und schlagfertig und gerade wurde ihr der Chefposten eines großen Konzerns angeboten, jahrelang hat Johar von dieser Position geträumt, hat sich hochgekämpft und es als Kind tunesischer Einwanderer weit gebracht.
"Wenn sie an all die Nächte zurückdenkt, in denen sie Verträge verbessert, Codes neu geschrieben, sich mit zugeschnürtem Magen vorbereitet hat auf Meetings mit wütenden Kunden oder Mitarbeitern, die man entlassen musste, dann ertappt Johar sich bei dem Wunsch, in den Augen ihrer Kollegen Unterwerfung zu erkennen."
Vier Menschen, völlig unterschiedlich, alle mit sich beschäftigt, aber nach außen lassen sie sich zunächst nichts anmerken. Am Anfang wird geplaudert über die Einrichtung, das Essen – doch in Gedanken ist jeder der vier ganz woanders: Rémis betrügt Johar seit längerem, Johar denkt permanent über ihre Beförderung nach, Claudia weiß seit Kurzem, dass sie von Étienne schwanger ist. Und auch Étienne geht es nicht um Geselligkeit, er verfolgt an diesem Abend ein klares Ziel: beruflich läuft es nicht gut und er will, dass Johar ihm in ihrer neuen Position einen lukrativen Auftrag zuschanzt. Nur darum hat er überhaupt zu diesem Essen eingeladen.
Doch gegessen wird kaum etwas an diesem Sommerabend. Je länger er dauert, je mehr Alkohol fließt, desto heftiger bröckeln die Fassaden, fallen die bürgerlichen Masken, offenbaren sich Abneigungen zwischen den vermeintlichen Freunden, und die Risse in den Paarbeziehungen. Und gerade der gut aussehende, kultivierte Étienne zeigt bald sein wahres Gesicht:
"Plötzlich legt sich Étiennes große Hand auf Claudias Schulter und drückt sie genervt. Er nähert seinen Mund ihrem Ohr und zischt sie so wütend an, dass ihr das Blut in den Adern gefriert: 'Was machst du, Claudia? Bleib bei den anderen sitzen. Deine Mandeln interessieren kein Schwein.'"
Das Setting "Bürgerliche Paare auf engem Raum verlieren die Fassung" ist nicht neu. Klassiker wie Roman Polanskis Film "Der Gott des Gemetzels", der auf einem Theaterstück der französischen Dramatikerin Yasmina Reza basiert, lassen grüßen. Zeitgemäßer wird Cécile Tlilis Version dieses Kammerspiels aber durch ihre beiden Frauenfiguren, die, so unterschiedlich sie sind, zusammenhalten, dazulernen und sich schließlich gegen die Männer behaupten.
"Die beiden Frauen gehen schweigend über den Flur. In ein paar Minuten wird Claudia hinter der schweren gepanzerten Tür verschwinden und vermutlich auch aus Johars Leben. Johar möchte ihr erzählen, was sie gerade unwissentlich in ihrem Leben ausgelöst hat. Stattdessen beschränkt sie sich darauf, Claudia sanft den Arm zu drücken."
Leider geht die Dynamik im Laufe der Geschichte etwas verloren, und manche Dialoge klingen künstlich. Der Autorin ging es ganz klar um Gesellschaftskritik, diese hätte aber ruhig etwas subtiler ausfallen können. Dennoch ist "Ein Sommerabend" ein bemerkenswertes Debüt, atmosphärisch dicht und mit überraschenden Wendungen. Nach und nach fallen die Freunde aus ihren jahrelang einstudierten Rollen und ihnen dabei zuzuschauen, macht letztlich auch einfach Spaß.