54 Sitzungen, 75 Zeugen, über 4.815 offene und geheime Akten - nach gut zwei Jahren Arbeit stellt der NSU-Untersuchungsausschuss des NRW-Landtages am Donnerstag (06.04.2017) seinen Schlussbericht im Parlament vor. Am Montag (03.04.2017) wurde er vorab im Netz veröffentlicht.
Auf knapp 800 Seiten legt der Ausschuss dar, was seine "Untersuchung eines möglichen Fehlverhaltens" von NRW-Behörden ergeben hat. Im Fokus standen dabei die Ermittlungen zu den drei Taten in NRW, die dem NSU zugerechnet werden: zwei Sprengstoffanschläge in Köln, ein Mord in Dortmund.
Nichts Neues, aber mehr Details
Neue Erkenntnisse zu den drei Taten kann der Ausschuss nicht präsentieren. Dafür ist er in der Lage, detaillierter als der NSU-Ausschuss des Bundestages nachzuzeichnen und zu belegen, wie die Ermittler in NRW vorgegangen sind: Hinweise auf rechtsextreme Täter wurden in der Tat weitgehend ignoriert.
So schreiben die NRW-Abgeordneten zum Bombenanschlag in der Kölner Probsteigasse 2001: "Ein möglicher fremdenfeindlicher Hintergrund der Tat ist nicht ernsthaft in Betracht gezogen worden." Auch beim Mord am Dortmunder Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık 2006 habe "die gebotene Offenheit in die Ermittlungsrichtung eines rechtsextremistisch motivierten Delikts gefehlt".
"Versuchte Kriminalisierung der Opfer"
Stattdessen haben die NRW-Behörden laut Abschlussbericht einseitig gegen die Opfer ermittelt. Zum Beispiel in Dortmund: "Die Zeuginnen Elif und Gamze Kubaşık haben dem Ausschuss berichtet, dass die Ermittlungen in Richtung Drogenkriminalität zu einer Stigmatisierung der Familie führten."
Auch nach der Nagelbombe in Köln 2004 hat laut Bericht eine "versuchte Kriminalisierung der Opfer" stattgefunden: "Das Verhalten der Polizei führte zu einer erneuten Viktimisierung der Opfer."
Zweifel an NSU-Trio-These
Der NSU-Ausschuss kritisiert in seinem Schlussbericht auch indirekt die Bundesanwaltschaft. Diese geht davon aus, dass der NSU lediglich aus drei Personen bestand. Aufgrund der Überprüfung der Ermittlungen zum Bombenanschlag in der Kölner Probsteigasse 2001 stellen die Düsseldorfer Abgeordneten die NSU-Trio-These allerdings infrage.
"Es bestehen erhebliche Zweifel daran, dass Uwe Mundlos oder Uwe Böhnhardt die Sprengfalle abgelegt haben", heißt es im Bericht. Es gebe Indizien, "die zumindest für die Beteiligung einer weiteren - bisher nicht identifizierten - Person sprechen". Es sei nicht auszuschließen, "dass dem NSU noch weitere Personen angehörten".
Rechte Szene durch V-Leute stabilisiert
Scharf kritisiert der Ausschuss auch den NRW-Verfassungsschutz und seinen Umgang mit sogenannten Vertrauenspersonen (VP) aus der Szene. Einer der Vorwürfe des Ausschusses: Die Verfassungsschützer vermittelten ausstiegswillige Neonazis nicht an das Aussteigerprogramm, sondern warben sie als Informanten an.
"Angesichts der Vielzahl an VPen in NRW stellt sich die Frage, ob die Szene nicht hätte minimiert werden können", so der Ausschuss. Die "Stabilisierung der Szene durch den Verfassungsschutz" müsse kritisch hinterfragt werden.
Zu viele Akten unter Verschluss?
Der Ausschuss hatte während seiner Arbeit mit Widerständen zu kämpfen. So dauerte es teilweise länger als erwartet, bis angeforderte Akten zur Verfügung standen. "Zu oft" seien - nach Meinung der Piratenfraktion - auch Akten als Verschlusssache eingestuft worden, "so dass eine öffentliche Thematisierung der Inhalte nicht möglich war".
Zu einem Eklat im Ausschuss kam es, als das Bundesamt für Verfassungsschutz die öffentliche Aussage einer Mitarbeiterin zum Fall des V-Manns Corelli verweigerte. Der Ausschuss konnte sich aber schließlich durchsetzen - nachdem er eine Pressemitteilung mit dem Titel "Ausschuss lässt sich nicht erpressen" veröffentlicht hatte.
Unmut über Streichungen
Auch bei der Erstellung des Schlussberichts gab es offenbar Unstimmigkeiten zwischen Ausschuss und Behörden. Nach WDR-Informationen soll das NRW-Innenministerium wenige Tage vor der Entscheidung über die Endfassung des Berichts massive Kürzungen durchgesetzt haben. Dabei soll es vor allem um die Praxis der V-Leute-Führung gegangen sein. Das Innenministerium habe als Argumente Quellenschutz und Persönlichkeitsrechte angeführt.
Im Bericht machen sich die Abgeordneten offenbar Luft. Die FDP-Fraktion bedauert vorgenommene Streichungen. Die Piraten-Fraktion schreibt, die Ergebnisse der Untersuchung eines möglichen Fehlverhaltens des NRW-Verfassungsschutzes hätten "nur in einem völlig unzureichenden Maße in diesem Abschlussbericht dargestellt" werden können.
Uneinigkeit über "institutionellen Rassismus"
Im SPD-geführten Ausschuss selbst hatten sich die Abgeordneten um ein gemeinsames Vorgehen ohne Parteiengezänk bemüht. "Die Zusammenarbeit zwischen allen Fraktionen war sowohl vertrauens- als auch qualitätsvoll", lobt denn auch die FDP-Fraktion.
Trotzdem gab es unterschiedliche Einschätzungen, die sich in den Sondervoten niederschlugen. Während Grüne und Piraten "institutionellen Rassismus" als eine Ursache für Ermittlungsfehler der NRW-Behörden sehen, lehnt die CDU diese Erklärung ab. Sie sieht als Grund den "nur rudimentär vorhandenen Kenntnisstand der Strafverfolgungsbehörden des Landes NRW über die rechtsextremistische Szene".
Überblick über rechte Szene in NRW
Fehlendes Wissen über die rechte Szene in NRW können sich die Strafverfolgungsbehörden nun im Nachhinein aneignen: Der Ausschussbericht bietet auf 230 Seiten einen ausführlichen Überblick über Strukturen, Aktivitäten und Netzwerke.