Interview mit Siegfried Michelt

Das Trauma der Heimkinder

Stand: 15.04.2010, 19:48 Uhr

Der "Runde Tisch Heimerziehung" diskutierte im April 2010 in Berlin wieder über die früheren Zustände in Kinderheimen. Zeitgleich forderten vor dem Brandenburger Tor rund 250 ehemalige Heimkinder von Staat und Kirche Entschädigungen. Eines von ihnen war Siegfried Michelt.

Siegfried Michelt verbrachte drei Jahre seiner Kindheit und Jugend in drei nordrhein-westfälischen Kinderheimen unter kirchlicher Führung. Das erste Mal kam er mit sechs Jahren ins Heim, nachdem seine Eltern sich hatten scheiden lassen. Er blieb ein Jahr. Zwei weitere Jahre verbrachte er als Jugendlicher in Heimen. Der heute 60-Jährige lebt in einer Kleinstadt nahe Bremen.

WDR.de: Was haben Sie während Ihrer Aufenthalte in den drei Heimen erlebt?

Siegfried Michelt: Das erste traumatische Erlebnis bei meinem Heimaufenthalt als kleiner Junge war die ungewollte Trennung von meiner Mutter. Sie durfte uns im Heim nicht besuchen. Innerhalb des Heims kann ich mich an das strenge Regiment erinnern. Es gab viele Schläge und keinerlei Zuneigung. Ich war damals sechs, ein Alter, in dem man viel verdrängt und vergisst. Aber ich weiß, dass ich mit offenen Augen geschlafen habe, also total abwesend war. Offenbar habe ich meine Umwelt damals nicht mehr wahrnehmen wollen. Heute sehe ich das als schwere traumatische Reaktion.

WDR.de: Wie war Ihre Zeit als Jugendlicher in den beiden anderen Heimen?

Siegfried Michelt wurde im Alter von 17 Jahren Opfer des Missbrauchs | Bildquelle: Siegfried Michelt

Michelt: Wir waren in Gruppen eingeteilt, in der Brüder und Patres die Erzieher waren. Wir mussten morgens zur Arbeit in externen Firmen antreten. Ich musste beispielsweise in einer Baracke mindestens acht, neun Stunden am Fließband arbeiten. Wenn etwas schief ging, benutze unsere Aufsichtsperson, die gehbehindert war, ihren Krückstock, um uns gefügig zu machen oder zu mehr Achtsamkeit anzuhalten. Wir wurden mit Prügeln zur Arbeit angetrieben und durften keinen Moment unkonzentriert sein, sodass wir am Abend völlig erschöpft waren.

WDR.de: Wie haben Sie sich damals behandelt gefühlt?

Michelt: Nicht als Mensch, sondern als verwaltete Existenz. Es gab keine Zuneigung - außer von solchen Menschen, die eine pädophile oder homosexuelle Veranlagung hatten. Ich fühlte mich wie ein Sklave, der immer und überall gefügig sein muss. Der nicht einmal lächeln durfte, ohne eine Ohrfeige zu bekommen. Es gab keine Fröhlichkeit, sondern nur Arbeit und Beten.

WDR.de: Wie haben diese Erlebnisse Sie geprägt oder sich auf Ihr weiteres Leben ausgewirkt?

Michelt: Die Heimzeit habe ich bis vor einem Jahr verdrängt, die gab es nicht in meinem Leben und sie wurde aus meinem Lebenslauf eliminiert. Seitdem ich mich damit beschäftige, kann ich mich nicht mehr davon lösen. Immer wieder werde ich von meinen Gefühlen überwältigt, wenn ich mitbekomme, welches Leid so vielen Menschen angetan wurde. Bis heute ist es so, dass ich mein Leben nicht immer im Griff habe, so als ob ich es nicht verdiene. Ich habe das Glück gehabt, eine abgeschlossene Ausbildung und einen Beruf zu haben. Mir war bewusst, dass dies wichtig ist, wenn ich nicht auf der unteren Ebene der Gesellschaft leben wollte. Mein Selbstwertgefühl war aber lange Zeit ziemlich gering. Es sind immer wieder innere Ängste da zu versagen, etwas nicht richtig zu machen, nicht den Anforderungen zu entsprechen. Ich wage als Selbstständiger nicht, meine Preise höher zu setzen, weil ich denke, das sei nicht gerecht.

WDR.de: Warum fahren Sie nach Berlin, was möchten Sie dort erreichen?

Michelt: Ich möchte die Situation verändern. Das fängt damit an, dass ich selbst eingreife und aktiv werde, damit ich nicht immer nur als Opfer gesehen werde. Über den Runden Tisch, der in Berlin seine siebte Sitzung hat, ist noch lange nicht erreicht, dass uns Gerechtigkeit widerfährt. Man versucht auch weiterhin, über uns zu verfügen. Ich möchte, dass wir selbst bestimmen, wohin der Weg geht und was für uns richtig ist.

WDR.de: Von dem, was am "Runden Tisch Heimerziehung" geschieht, sind Sie nicht überzeugt?

Michelt: Auf keinen Fall. Auf den ersten Blick liest sich zwar alles, was in dem Zwischenbericht steht, ganz ordentlich. Man weigert sich aber, solche Begriffe wie Zwangsarbeit und Menschenrechtsverletzungen, die uns zugefügt wurden, zu verwenden. Wenn das zugestanden würde, wäre das, was uns zugefügt wurde, justiziabel und nicht mehr verjährt.

WDR.de: Was müsste passieren, um eine Wiedergutmachung zu erreichen?

Michelt: Kirchliche Hotlines sind jedenfalls nicht hilfreich, um das Geschehene aufzuarbeiten. Gerade unter dieser Institution und in den Heimen, die ihr unterstanden, wurde man ja missbraucht und gepeinigt. Mit der Aufarbeitung der Ereignisse sollte eine neutrale Instanz beauftragt werden, und sie müsste von uns gesteuert sein. So könnte der Verein ehemaliger Heimkinder eine solche Funktion übernehmen, wenn dort entsprechende Mittel und Fachpersonal zur Verfügung gestellt würden.

WDR.de: Es ist auch die Rede von finanzieller Entschädigung ...

Michelt: Sie wären für viele sicher eine Hilfe. Man weiß, dass unter den ehemaligen Heimkindern viele sind, die von Hartz IV leben, sehr krank oder an den Rollstuhl gefesselt sind. Da kommt es auch zu Selbstmorden. Entschädigung sollte dazu verwendet werden, das Leben dieser Menschen im Alter würdig zu gestalten, so dass ihnen eine weitere schlimme Heimerfahrung, diesmal im Altersheim, erspart wird. Das wäre eine rechte Wiedergutmachung: in Würde altern zu können. Und mit Verzögerungstaktiken soll aufgehört werden, um uns so lange hinzuhalten, bis wir alle verstorben sind. Man hat in Deutschland zu lange weggeschaut.

Das Interview führte Stefanie Hallberg.