Es ist der Morgen des 24. Juli 2010. Mit vier Freunden wollen Antonia und Vanessa Kolkmann zur Loveparade. Bei Vanessa in Essen gibt es Frühstück, dann geht es mit dem Zug nach Duisburg. Um 15.30 Uhr erreichen sie die Taschenkontrolle am Tunneleingang. Hier ist es voll. Eigentlich haben sie keine Lust sich anzustellen, aber "die Alternative, einfach wieder nach Hause zu fahren, war ja auch doof", erinnert sich die 27-jährige Vanessa. Sie habe es damals schon komisch gefunden, dass es nur den einen Zugang auf das Gelände gab. "Ich war schon ein paar Mal bei der Loveparade - in Berlin, in Essen, das waren immer offene Gelände mit mehreren Zugängen."
Ein Jahr später wirkt der Tunnel klein und beängstigend eng. Die Schwestern stehen an der Rampe, lesen die Briefe der Trauernden unterhalb der Treppe. 21 Menschen sind an dieser Stelle gestorben. "Die Bilder, Gefühle, vor allen Dingen die Geräusche sind wieder da", beschreibt Antonia. Trotzdem kommt die 18-jährige Gymnasiastin oft in die Karl-Lehr-Straße, zu der Treppe, an den Ort, an dem sie vor einem Jahr fast gestorben ist. "Nur hier kann ich begreifen, dass das was hier passiert ist, wirklich real ist." Und dann beginnt sie in der ruhigen Duisburger Abendsonne von der Massenpanik, von Schweiß, von Schreien, von ihrem Besuch auf der Loveparade zu erzählen.
Erinnerungen an Bässe und den Geruch von Schweiß
Im Tunnel herrscht Partystimmung, wummernde Bässe und Vorfreude - erst bei der Rampe, dem Eingang zum Festivalgelände, kommen die Schwestern wieder zum Stehen. Überall sind auf einmal Menschen. Von einem auf den anderen Moment kippt die Stimmung. "Es gab keinen Übergang von normal voll bis zu voll", sagt Antonia heute. Am Anfang schaffen sie es noch Blickkontakt zu halten. Dann fängt die Wellenbewegung der dicht an dicht gedrängten Körper an. "Wir sind in diesen Wellen quasi geschwommen. Ich konnte meine Füße nicht mehr bewegen, habe Panik bekommen, geschrien, meine Schuhe verloren", erinnert sich die jüngere der Schwestern.
Durch die Welle werden sie immer mehr Richtung Wand und Treppe gepresst. Damals gaukelt die kleine Treppe an der Rampe den rettenden Notausgang vor. Über sie entkommen ein paar Menschen der schwitzenden, panischen Masse. "Dann kam eine Riesenwelle", erinnert sich Antonia. Sie stürzen zu Boden, "wie Dominosteine". Jetzt ist es vorbei, habe sie gedacht. "Es fallen Leute auf dich. Deine Beine und Arme werden taub. Der Druck auf die Lunge nimmt zu. Ich erinnere mich an die Bässe, den Geruch nach Schweiß und Kotze." So ineinander verzweigt haben sie gelegen, dass sie nichts mehr bewegen konnten. "Wir waren begraben."
Versuch zu atmen, beweg die Finger, bleib wach
Dicht an dicht liegen die Körper, das "Knäuel" nennen die beiden Mädchen den Menschenberg in ihren Erzählungen. Antonia bleibt ein kleines Loch zum Atmen. "Kamen da Beine hin habe ich einfach reingebissen. Du hast nichts mehr und jemand nimmt dir noch das kleine Loch weg, das dir zum Atmen bleibt." "Kennst du das, wenn du müde bist und krampfhaft versuchst, vor dem Fernseher nicht einzuschlafen? So ähnlich habe ich gekämpft, versucht wach zu bleiben, immer wieder die Finger der rechten Hand bewegt", versucht Vanessa ihre Gefühle zu vergleichen. Doch irgendwann wird das Atmen immer schwieriger, irgendwann gibt auch Vanessa auf. "Ich habe das als Sterben wahrgenommen."
Antonia wird als Erste befreit. Sie sucht und findet Vanessa, sieht dass ihre Schwester noch lebt. "Sie lag auf dem Rücken unter Menschen." Die jüngere Schwester versucht, Hilfe zu holen. Doch die Menschen werden von oben weg aus dem Knäuel befreit, immer wieder wird Antonia von den Helfern weggeschickt. "Ich hatte Angst, dass ich Vanessa da noch lebend gesehen habe und sie in der Zwischenzeit stirbt." Doch irgendwann kann auch Vanessa befreit und in den Tunnel getragen werden. Antonia kommt mit ihren tauben Beinen nicht hinterher, ein Mann schmeißt sich das schreiende Mädchen schließlich über die Schulter und trägt sie zu ihrer älteren Schwester.
Ohne Handy, Geld und Schuhe - Duisburg ist abgeriegelt
Dann erinnern sich Antonia und Vanessa an Wasser, Decken, Traubenzucker, sie bekommen eine Karte umgehängt, die Name und Verletzungsgrad zuweist. Gerüchte von den ersten Todesopfern machen die Runde. Sie haben Angst um ihre Freunde - erfahren erst später, dass alle die Panik überlebt haben. Überforderte Helfer, weit und breit kein Taxi, Duisburg ist abgeriegelt. Schwarz von oben bis unten, laufen die beiden irgendwann durch die fremde Stadt - ohne Handy, ohne Geld, ohne Schuhe. Ein Pärchen auf der Straße sammelt sie auf, nimmt sie mit nach Hause, zwei Männer fahren sie später am Abend ins Krankenhaus nach Essen-Borbeck. Dort werden sie durchgecheckt, um ein Uhr in der Nacht dürfen sie endlich nach Hause.
Enttäuscht von den Verantwortlichen
Am Morgen danach, unter der Dusche, fallen die vielen blauen Flecken und Prellungen erst auf, der Körper schmerzt, der Schock setzt ein. In den Tagen danach recherchieren die Mädchen. Schauen endlos lange Bilder, Videos, die Nachrichten, "um irgendwie zu verstehen, was dort passiert ist", so Vanessa. Von den Verantwortlichen sind sie enttäuscht, empfinden die späten Entschuldigungen als pure Taktik.
Nun lassen sich die Schwestern als Nebenkläger von der Düsseldorfer Kanzlei Baum und Reiter vertreten: "Ich möchte das nicht einfach auf mir sitzen lassen. Ich will, dass bei einer Verurteilung die Verantwortlichen wissen, dass auch Frau Vanessa Kolkmann hinter der Anklage steht." Es ist das Gefühl, selber was machen zu können, Gerechtigkeit zu bekommen. Auf die Veranstaltungen gegen den Duisburger Oberbürgermeister Adolf Sauerland (CDU) gehen sie trotzdem nicht. "Demos? Viel zu viele Menschen."
Angst vor Schlangen, Stau und dem Einschlafen
Vieles geht nicht mehr nach der Massenpanik. "Disco ist nicht mehr Disco", Vanessa schaut nach den Notausgängen, checkt ständig, wie voll es ist. Menschenschlangen machen ihr Angst, Stau auf der Autobahn ebenfalls. "Denn das nimmt einem die Entscheidung, wie man sich bewegen kann." Beim Einschlafen bleiben Fernseher und Licht an. "Einschlafen ist dieselbe Position, in der ich auch hier an der Treppe lag. Auf dem Rücken und es ist dunkel." Auch ihre Schwester wacht nachts immer wieder schweißgebadet auf.
Heute machen die Schwestern eine Therapie bei einer Kinder- und Jugendpsychologin. "Psychogelaber habe ich vorher gedacht," sagt die 18-Jährige lächelnd. "Doch ich brauche die Therapie. Ich hatte Schuldgefühle, habe mir Gedanken gemacht, dass ich auf anderen Menschen gelegen habe, sie vielleicht erdrückt habe." Das Leben der Schwestern hat sich nach der Loveparade verändert. "Man setzt andere Prioritäten", findet Vanessa. Und Antonia ergänzt: "Ich habe früher schon oft gesagt, ich liebe das Leben. Aber heute tue ich das irgendwie noch mehr." Im letzten Jahr sei so viel passiert, sie habe Sturmfrei-Partys geschmissen, ihren 18. Geburtstag gefeiert. "Ich bin froh, das alles erleben zu dürfen. Das können 21 Menschen nicht."
Antonia und Vanessa möchten auf diesem Weg Rouven, Max, Albrecht und Tanja herzlich für ihre Hilfe danken.