Lange schien die Welt in Urfeld noch in Ordnung zu sein. Im Dietkirchener Hof, einem herrschaftlichen Anwesen direkt am Rhein, bereiteten sich im Herbst 1938 mehrere Dutzend jüdische Jugendliche aus ganz Deutschland auf ihre Auswanderung nach Palästina vor. "Kibbuz Bamaaleh" nannten sie ihr Zentrum. "Bamaaleh" ist Hebräisch und bedeutet wörtlich "im Aufstieg". Aufsteigen wollten die Jugendlichen von ihrer unsicheren Existenz in Deutschland. Sie verstanden sich als Pioniere des Aufbaus eines jüdischen Staates in Palästina, das damals britisches Mandatsgebiet war. Ihr Ziel: eine gerechte, sozialistische Gesellschaft. Ihr Ideal eines gemeinschaftlichen Lebens versuchten sie so weit wie möglich auch schon in Urfeld zu verwirklichen: Gekocht wurde gemeinsam, und gegessen wurde im großen Speisesaal. Zum Schlafen gab es nur zwei große Säle für die 50 bis 70 Bewohner, nach Jungen und Mädchen getrennt.
Ein rheinischer Kibbuz
Von den Urfelder Bauern ließen sie sich zeigen, wie man Gemüse anbaut und Milchwirtschaft betreibt. Denn wer nach Palästina einreisen wollte, musste eine praktische Ausbildung vorweisen können – so stand es in den britischen Einwanderungsbestimmungen. Abends studierten die Jugendlichen Hebräisch, diskutierten über die politischen Verhältnisse in ihrer künftigen Heimat oder lasen die marxistischen Klassiker. Wenn noch Zeit blieb, spielten sie Schach oder schwammen im Rhein.
Getragen wurde das Zentrum von der sozialistisch-zionistischen Organisation "Hechaluz" ("Der Pionier"), die den Dietkirchener Hof von dem Urfelder Architekten Albrecht Doering angemietet hatte. Weil ihm das repräsentative Herrenhaus auf dem Grundstück zu groß geworden war, zog er mit seiner Familie in das Gartenhaus und überließ das Wohnhaus den Jugendlichen der "Hechaluz". Doering war selbst kein Jude, hatte aber viele jüdische Geschäftspartner und Freunde, darunter den Textilfabrikanten Arthur Stern aus Rheydt (heute Mönchengladbach), der das Projekt in Urfeld finanzierte.
"Das ist ein arisches Haus!"
Unter dem 10. November 1938 schrieb Josef ben Avraham Rachwalski, der als Lehrer im Kibbuz arbeitete, in sein Tagebuch: "Wir hatten schon öfter festgestellt, dass wir in Urfeld auf dem Mond lebten. Während in allen deutschen Landen die Volksseele im Anschluss an die Rede Hitlers im Bürgerbräu am Abend des 9.11. programmmäßig überkochte, während seit den frühen Morgenstunden des 10.11. in den Städten Synagogen und jüdische Gemeindehäuser brannten, (...) standen wir wie jeden Morgen im Winter, um sieben Uhr auf, gingen zur Arbeit und arbeiteten bis zur Mittagspause ..."
Die Urfelder Idylle sollte nicht lange dauern. Am Abend des 10. November tauchten vier bewaffnete Nazis auf, drangen in das Haus ein und trieben die Jugendlichen im ersten Stock zusammen. Dann machten sie sich daran, die Einrichtung zu zerstören. Claus Doering, einer der Söhne des Architekten, kann sich an jene Nacht noch gut erinnern: "Wir hörten das Klirren der Scheiben und sind dann rüber gegangen. Mein Vater sagte ihnen, das sei ein arisches Haus, sie sollten das sein lassen. Daran haben die sich auch gehalten." Doch damit sei die Gefahr noch nicht endgültig beseitigt gewesen. Denn später sei noch eine andere Gruppe Nazis auf zwei Pritschenwagen zurückgekommen. "Wir waren ja noch Kinder", sagt Claus Doering. "Aber damals haben wir die Gewehre in die Hand genommen und die Angreifer regelrecht vertrieben."
Zum Glück waren die Nazis besoffen
Lehrer Rachwalski schreibt, wie die Familie die Jugendlichen schützt: "Herr Doering ging mit seinen beiden Söhnen, alle drei mit Jagdgewehr bewaffnet, sofort ins Haus, um Demolierungen zu verhüten. (…) Nebenbei sollen Herr Doering und seine Söhne einigen Chawerim (Genossen) beim Entkommen geholfen haben. Fest steht, dass sein kleiner Sohn, mit dem Jagdgewehr in der Hand, in voller Jungvolkuniform, Ursel mitten durch die Rowdies ins Freie gebracht hat." Und weiter heißt es: "Zum Glück waren die Nazis weder gut organisiert noch besonders zahlreich. Vor allem waren sie besoffen."
Auswanderung nach Palästina
In jener Nacht konnten sich einige Jugendliche im Keller der Familie Doering verstecken, andere fanden Unterschlupf in der Gärtnerei des späteren Kölner Gartenbaudezernenten Josef Giesen. Einer größeren Gruppe gelang die Flucht nach Köln. Wie viele ehemalige Urfelder die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten überlebt haben, ist unklar. Eine ganze Gruppe schaffte aber die Auswanderung nach Palästina. Mitglieder einer der ersten Urfelder Jahrgänge gründeten im Norden des späteren Israels den Kibbuz "Afek".
Für Albrecht Doering und seine Familie hatte ihr mutiger Einsatz für die jungen Juden keine nachteiligen Folgen. Nur das nationalsozialistische Propagandablatt "Der Stürmer" widmete Doering 1939 einen Artikel und ereiferte sich über den freundschaftlichen Umgang zwischen dem "deutschen Architekten" Doering und dem jüdischen Fabrikanten Arthur Stern.