"Nichts ist mehr so, wie es einmal war." Das sagen die meisten Opfer des Nagelbombenanschlags in der Kölner Keupstraße, die seit Dienstag (20.01.2015) vergangener Woche beim NSU-Prozess ihre Zeugenaussagen machen. Für manche der Betroffenen ist tatsächlich alles ganz anders geworden. So zum Beispiel auch für die Anwohnerin Sermin S.
Eigentlich gehört sie zu denen, die damals sehr viel Glück hatten. Sermin S. ist am 9. Juni 2004 zu Hause. Es ist ein ungewöhnlich heißer Tag in Köln. Die damals 29-Jährige ist hochschwanger, deshalb befindet sie sich im kühleren Hinterzimmer mit ihrem kleinen Sohn, als die Bombe explodiert. Wie viele andere denkt auch sie zunächst an eine Gasexplosion. Sie rennt nach vorne und blickt auf die Straße, sieht blutende, orientierungslos umherrennende Menschen - in einer völlig verwüsteten Umgebung.
"Das ist kein schönes Leben"
Auch das Haus von Sermin S. ist beschädigt. Die Jalousien sind durch die Wucht der Explosion zerbrochen, der Laden im Untergeschoss ist zerstört. In der Wohnung sind überall Risse zu sehen. Sermin S. erleidet eine Frühgeburt. Glücklicherweise ist das Baby gesund, die Mutter auch.
Trotzdem ist für Sermin S. nichts mehr wie früher. Sie kann fortan nicht mehr mit dem Aufzug fahren. Bus- und Bahnfahren geht auch nicht mehr. Besuche der Eltern oder Urlaube in der Türkei sind nur noch selten möglich. Sermin S. hat jetzt massive Flugangst. Ihr Leben wird beherrscht von Panikattacken, innerer Unruhe, Schlaflosigkeit, depressiven Stimmungen und diffusen Ängsten. "Das ist kein schönes Leben", erklärt sie vor dem Oberlandesgericht in München.
Schreckliche Bilder im Kopf
Die 31 anderen Zeugen berichten Ähnliches. Viele haben Bilder im Kopf, die kaum zu ertragen sind. Blutüberströmte Menschen, viele davon Freunde und Bekannte, in deren Körper Nägel und Glasscherben eingeschlagen sind. Manche mit brennender Kleidung. Schreie. Die Angst, es könnte gleich wieder passieren.
Und mindestens so schlimm, wenn nicht sogar noch schlimmer sind für die Betroffenen die Verdächtigungen der Polizei. Laut der Schilderungen werden sogar Koma-Patienten unmittelbar nach ihrem Erwachen befragt - und zwar so, dass sofort klar geworden sei, dass die Ermittler die Opfer für verdächtig hielten. Andere Opfer wiederum dürfen nicht mal erfahren, ob der Freund, den sie selbst ins Krankenhaus eingeliefert haben, überlebt hat. Zunächst sollen sie getrennt voneinander vernommen werden.
Hochzeitsgäste ausgefragt
Ein Zeuge berichtet, wie ein paar Tage später die Ermittler in seinen Juwelierladen kommen. Sie wollen einen DNA-Abstrich machen, sagen es ihm aber nicht offen. Denn eigentlich ist dafür eine richterliche Anordnung nötig. Der Zeuge willigt schließlich ein, er hat nichts zu verbergen. Doch es bleibt nicht dabei. Auf einer Zugfahrt nach Nürnberg zur Hochzeit seiner Nichte wird der Zeuge von Ermittlern begleitet - inkognito. Die Ermittler tauchen auch auf der Feier auf. Sie befragen die Hochzeitsgäste zu den angeblichen Kontakten des Zeugen zur Mafia, zur PKK und zur Türsteher- beziehungsweise Drogenszene.
Ähnliches erleben fast alle Opfer der Keupstraße. Nachdem der damalige Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) nur 24 Stunden nach dem Anschlag erklärt, man gehe von organisierter Kriminalität unter Migranten aus, gibt es für die Polizei offenbar kein Halten mehr.
Ermittler setzten offenbar auf Verrat
Die Anwohner werden beschattet und immer wieder vernommen. Ehefrauen wird erzählt, der Mann gehe fremd. Dem einen Nachbarn wird gesteckt, es gebe Beweise, der andere Nachbar wäre nun ganz oben auf der Verdächtigenliste. Die Ermittler wollen damit Familienangehörige, Nachbarn und Freunde vermutlich dazu animieren, einander doch noch zu verraten.
Aber für die Keupstraßen-Anwohner gibt es nichts zu erzählen. Sie sind die Opfer. Bei ihren zahlreichen Vernehmungen bestehen sie immer wieder darauf und sie geben Hinweise zu einem möglichen rechtsradikalen Hintergrund. Sie werden offensichtlich nicht ernst genommen.
Panikattacken, Schlaflosigkeit, Arbeitsunfähigkeit
Alle 32 Zeugen berichten von ähnlichen schlechten Erfahrungen mit der Polizei. Die meisten von ihnen berichten ebenso davon, wie sie die letzten sieben Jahre, bis der Anschlag 2011 im Bekenner-Video des NSU auftaucht, sorgfältig verdrängt haben. Besonders die Männer. Sie haben über den Anschlag kaum gesprochen, auch nicht in der Familie. Einige sind in Therapie, weil ihr Leben nach dem Anschlag zu sehr aus den Fugen geraten ist. Andere sind bis heute arbeitsunfähig. Auch die psychologische Unterstützung gestaltete sich äußerst schwierig. Als Verdächtige hatten sie Mühe, überhaupt entsprechende Therapien bewilligt zu bekommen. Die schlimmen Erlebnisse, all die Ängste und ihre Wut in Deutsch auszusprechen, war eine weitere Hürde - sogar wenn die Deutschkenntnisse perfekt waren.
Frauen hingegen scheinen mit dem Anschlag und seinen Folgen anders umgegangen zu sein. Im Zeugenstand berichten sie freimütig von Panikattacken, von permanenter innerer Unruhe, Schlaflosigkeit, von Ängsten. Manche berichten, dass sie bis zur Ladung zum Prozess glaubten, den Anschlag und seine Folgen gut verarbeitet zu haben. Im Zeugenstand hätten sie allerdings erkennen müssen, dass sie es noch nicht geschafft haben. Im Gegenteil, ab jetzt benötigen sie erneut Hilfe, sagen einige Zeuginnen.
Drastische Schilderungen lassen Hölle erahnen
Ob Mann oder Frau, alle Zeugen erzählen, sie seien wütend. Wütend darüber, dass sie jahrelang grundlos, aber beharrlich als Täter verdächtigt worden seien. Dass die Ermittler auf dem rechten Auge blind geblieben seien. Dass die Ermittler alle gegen alle ausspielten, so dass am Ende fast alle Anwohner der Keupstraße sich tatsächlich gegenseitig verdächtigten.
Ob auf Deutsch oder mit Dolmetschern auf Türkisch ausgeführt, die Zeugen wählen vor Gericht drastische Worte. Ihre Schilderungen lassen erahnen, durch welche Hölle diese Menschen gegangen sein müssen, und dass nicht einmal ihre Entlastung durch die Selbstenttarnung des NSU wirkliche Linderung gebracht hat. Die Zeugen bleiben aufgewühlt und ihre Aussagen bescheren dem Gericht diese seltenen Momente, bei denen klar wird, worum es im NSU-Prozess neben der strafrechtlichen Aufarbeitung auch geht. Nämlich darum, dass so viele Migranten über einen unermesslich langen Zeitraum Opfer waren, aber von den Behörden, von den Medien und von ihren Nachbarn wie Täter behandelt wurden.