"Es gab nichts, was darauf hingewiesen hat. Man wird von jetzt auf gleich komplett aus dem Leben gerissen", sagt Kathrin Marchand im WDR-Interview mehr als drei Jahre nach ihrem Schlaganfall.
Am 1. September 2021 nimmt die Olympiateilnehmerin im Rudern an einem Online-Spinning-Kurs teil, als sie auf einmal bemerkt, dass ihr Sehvermögen eingeschränkt und ihre linke Körperseite komplett taub ist. Als Ärztin ist ihr zwar sofort klar, was diese Symptome bedeuten können, aber sie hofft, dass sie eher durch eine Unterzuckerung oder einen eingeklemmten Nerv kommen. Doch der Zustand hält an und so entschließt sich Kathrin Marchand nach einer Stunde, den Notarzt zu rufen.
Bis heute merkt die gebürtige Kölnerin die Folgen des Schlaganfalls. "Wenn ich morgens aufwache, ist es immer dunkel, ich würde gerne das Licht anmachen. Es hat erst gedauert, bis ich verstanden habe, dass ich das Licht nicht so einfach anmachen kann und es ist wieder alles gut." Marchand sieht wie durch ein Fernrohr, in ihrer linken Körperhälfte hat sie eine Wahrnehmungsstörung - ihr linker Arm fühlt sich fremd an, es fällt ihr schwer, über einen längeren Zeitraum rechts und links zu koordinieren.
Die 33-Jährige vom RTHC Leverkusen blickt auf eine lange sportliche Karriere im Rudern zurück. 2008 nimmt sie an den Junioren-Weltmeisterschaften teil, holt mit dem Achter die Bronzemedaille. 2011 gewinnt sie mit dem deutschen Vierer bei den U23-Weltmeisterschaften. 2012 und 2016 steht Marchand mit dem deutschen Frauenachter und dem Zweier ohne Steuerfrau bei den Olympischen Spielen in London und Rio im Finale.
Nach ihrer zweiten Olympiateilnahme beendet sie ihre sportliche Karriere und schließt ihr Medizinstudium ab. "Es war mir zu intensiv und sehr anstrengend, ich habe meinen ganzen Ehrgeiß in das Rudern gesteckt." Sie wird Ärztin und arbeitet unter anderem in der Notaufnahme. Aber auch dort macht sie mehr, als ihr gut tut, sagt sie im Nachhinein.
Ein halbes Jahr nach ihrem Schlaganfall führt sie ein Zufall zurück zum Rudern - und bringt sie zum Para-Sport. Auf einer Fahrt mit ihren Eltern zu ihrem Bruder in die Schweiz hört sie im März 2022 im Radio einen Beitrag über die Paralympischen Winterspiele in Peking - ihr Interesse ist geweckt.
Marchand erkundigt sie sich nach den Rahmenbedingungen: WIe groß ist der zeitliche Aufwand, reichen ihre körperlichen Einschränkungen überhaupt für eine Klassifizierung? Sie beginnt mit dem Training und wird wenige Monate später wegen ihrer Hemiparese, ihrer schwächeren linken Körperhälfte, im Para-Sport klassifiziert, so dass sie an Wettkämpfen teilnehmen darf.
Dann geht alles ganz schnell. "Zwei Mannschaftskollegen sind krank geworden und ich sollte bei den Europameisterschaften starten." Dort gewinnt Marchand mit dem Mixed-Vierer die Bronzemedaille, bei den Weltmeisterschaften die Silbermedaille und wird mit ihren Teamgefährten zum Para-Team des Jahres 2022 gekrönt.
Paralympics-Teilnahme drei Jahre nach dem Schlaganfall
Bei ihrer Paralympics-Premiere in diesem Jahr in Paris ruderte sie mit dem Mixed-Vierer mit Steuerfrau in einem packenden Finale auf Platz vier - nur sechs Hundertstelsekunden hinter dem Boot aus Frankreich.
Nach ihrem Schlaganfall hat Marchand gelernt, besser auf ihren Körper zu achten. Trotz ihrer bescheinigten Berufsunfähigkeit arbeitet die Ruderin weiter als Ärztin, aktuell in der Orthoparc Klinik in Köln-Junkersdorf. "Ich arbeite nur noch 50 Prozent, mehr geht einfach nicht. Nach 5 Stunden wird die Fehlerquote zu hoch, denn ich kann mich nicht mehr so lange konzentrieren."
"Ich focussiere mich auf das, was geht - nicht auf das, was nicht geht"
Marchand versucht auch anderen Betroffenen Mut zu machen: "Ich versuche immer das Gute zu sehen und nicht das, was nicht mehr geht. Ich werde nie mehr in der Notaufnahme arbeiten können, aber mit der Teilzeit-Arbeit klappt es gut. Ich bin einfach froh, wie es gerade ist.“
Heute nimmt sich die 33-Jährige immer wieder Auszeiten und möchte auch andere Menschen ermutigen, mehr in ihren Körper hineinzuhorchen. "Früher hatte ich sehr viel Streß. Wenn mir mein Körper gesagt hat, mach mal Pause, habe ich das nicht gemacht. Man macht halt doch immer mehr, als man eigentlich kann. Das beobachte ich auch bei Arbeitskollegen ganz viel, die ihren Job sehr gerne machen, aber eben oft doch sehr gestresst sind."