Lesefrüchte

"Die Tage des Wals" von Elizabeth O' Connor

Stand: 14.06.2024, 14:02 Uhr

Als Ende der 1930er Jahre ein Wal auf einer abgelegenen walisischen Insel strandet, ändert sich das Leben der achtzehnjährigen Manod von Grund auf. Zwei Forscher aus Oxford engagieren die junge Frau als Assistentin. Was als Abenteuer beginnt, wandelt sich zu einer Beziehung voller Hoffnungen und Sehnsüchte, in der Manod nur verlieren kann.

Manods Leben ist eintönig und trist. Ihr Vater fährt jeden Tag zum Fischen aufs Meer hinaus, ihre Mutter ist tot. Die Achtzehnjährige kümmert sich allein um ihre jüngere Schwester und um den Haushalt. Dabei träumt sie von einem Leben als Lehrerin auf dem Festland. Elizabeth O’Connor beschreibt die peitschenden Wellen, den eisigen Wind und den penetranten Geruch nach Fisch und Meerestieren so anschaulich, dass man sich beim Lesen schon nach ein paar Seiten so fühlt, als sei man selbst auf der abgelegenen walisischen Insel gestrandet.

Ein Forscherpaar aus Oxford möchte eine wissenschaftliche Publikation über das Leben auf der Insel veröffentlichen. Edward und Joan, so heißen die beiden, engagieren Manod als Übersetzerin und Assistentin. Die junge Frau beginnt eine Affäre mit Edward. Gemeinsam schmieden sie Pläne für ein Leben auf dem Festland. Zum ersten Mal denkt Manod über den Sinn ihres Lebens nach und erkennt, dass nicht alle Menschen nach traditionellen Rollen- und Wertevorstellungen leben.

Erst nach Monaten merkt sie, dass sie von Edward und Joan für eine erfolgreiche Publikation benutzt wird. An Fakten haben die Wissenschaftler kein Interesse. Sie stellen das Inselleben geschönt dar. Mit subtilen Andeutungen lässt Elizabeth O‘ Connor ihre Leser wissen, dass sich die Forscher den Inselbewohnern überlegen fühlen.

Joan ist von Manods hohem Bildungsgrad überrascht und stellt beinahe erleichtert fest, dass die meisten anderen Insulaner nur Walisisch und kein Englisch sprechen. Mit Genugtuung präsentiert die Wissenschaftlerin neuste Mode vom Festland, die im Kontrast zum bäuerlichen Inselleben steht. Manods Bewunderung wandelt sich in Verzweiflung, als sie erkennt, dass die Forscher sie für eine erfolgreiche Publikation ausnehmen, wie den Kadaver des gestrandeten Wals.

In ihrem behutsamen, zarten Schreibstil ergründet Elizabeth O‘ Connor in "Die Tage des Wals" soziale Ungleichheiten und weibliche Emanzipation. Auf nur 200 Seiten erschafft die Autorin eine tiefgründige Protagonistin, deren Gefühle zu jedem Zeitpunkt nachvollziehbar sind. Ein gelungenes Debüt, das zeigt, wie viel Kraft, Wille und Geduld es kostet, andere Menschen und ihr Umfeld zu verstehen – und, dass das nicht immer gelingt.

Eine Rezension von Isabelle Stier

Literaturangaben:
Elizabeth O‘Connor: Die Tage des Wals
Aus dem Englischen von Astrid Finke
Blessing, 2024
224 Seiten, 24 Euro