Buch der Woche

"Von Norden rollt ein Donner" von Markus Thielemann

Stand: 06.09.2024, 13:03 Uhr

Der Heimatroman war mal eine große Sache. Aber das ist lange her: die sentimentale Verklärung des angeblich harmonischen Landlebens, die die Heimatromane auszeichnete, gilt spätestens seit der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur als trivial, sondern als anrüchig.

Aber das heißt natürlich nicht, dass man keine Romane schreiben kann, die auf dem Land spielen und von Schäfern erzählen. Genau das tut der gerade 32jährige Markus Thielemann in seinem zweiten Roman "Vom Norden rollt ein Donner", der für den Deutschen Buchpreis 2024 nominiert ist.

Markus Thielemann erzählt vom 19jährigen Jannes, der den Betrieb seiner Eltern schon fast übernommen hat. Noch sind Eltern und Großvater Teil des Familienbetriebs, aber Jannes, Jannes ist die Zukunft. Zu Beginn des Romans ist der junge Mann noch ein großes Kind. Er nimmt die Welt wie sie ist und scheinbar immer schon war: die Jahreszeiten, die ewig gleichen Abläufe der Schäfer, das Leben in der Familie. Er ist unschuldig, naiv.

Aber nach und nach verliert Jannes diese Unschuld und merkt: Moment mal, so schön die Heide ist, zu allen Jahreszeiten, natürlich ist daran nichts. Alles hier hat Geschichte, nicht zuletzt die Landschaft selbst. Und viel von dem, was interessant ist an der Geschichte, wird beschwiegen.

Den ersten Riss bekommt die scheinbare Idylle durch die Wölfe. Seit einiger Zeit sind die Raubtiere zurück in der Heide. Die Gefahr bleibt zwar eher diffus, aber die Fantasie der Menschen ist beflügelt. Denn mit den Wölfen kehrt die Geschichte zurück. Die Mythen. Und die Geschichten. Jannes Großvater z.B. erzählt nach ein paar Schnäpsen gern, wie er kurz nach dem 2.Weltkrieg den letzten Wolf erschossen hat. Aber stimmt das auch? Oder hat der Opa auf ein ganz anderes Ziel gefeuert?

Aber da ist noch mehr: Zu den Dingen, mit denen Jannes aufgewachsen ist, als seien sie Teil der natürlichen Ordnung der Dinge, gehört auch Geschützlärm. Die Eltern seiner Freunde sind meist beim Bund oder arbeiten beim Rüstungskonzern Rheinmetall. Und das liegt daran, dass in der Heide seit dem 19.Jahrhundert riesige Truppenübungsplätze sind - bis heute.

In der Nazizeit gab es hier sehr viele Zwangsarbeiter - und das KZ Bergen Belsen. Im Innencover von "Vom Norden rollt ein Donner" ist eine Landkarte abgebildet, auf man das herrlich sehen kann: Naturschutzgebiet - Truppenübungsplatz. All diese Facetten der Geschichte seiner Heimat und seiner Familie werden Jannes mehr und mehr bewusst. Aber nicht, weil Jannes beginnen würde, zu forschen oder Fragen zu stellen. Jannes ist kein Detektiv.

Die Vergangenheit begegnet Jannes zunächst in Form von Visionen und Träumen. Im Wald und auf der Heide erscheint ihm immer wieder eine Frau. Und bald ahnt Jannes, dass die geheimnisvolle Rose, von der seine demente Großmutter oft erzählt, eine völlig reale Person sein könnte.

Aus all diesen Versatzstücken spinnt Markus Thielemann einen verblüffenden, überaus aktuellen Anti-Heimatroman. Und damit macht er der Lüneburger Heide, ihren Bewohnern und Besuchern ein Geschenk. Denn wenn die Geister der Vergangenheit ans Licht gebracht werden, wird aus einer falschen Idylle etwas viel Besseres als Heimatkitsch: eine lebendige Landschaft mit lebendigen Menschen, mit Geschichte und Gegenwart.

Die Heide lieben kann man trotzdem. Für den Wind, für die Farben und für die Weite. Und dass der chauvinistische, deutsch-nationale Heidedichter Hermann Löns von seinem Sockel gestoßen wird, das war ohnehin überfällig.

Eine Rezension von Uli Hufen

Literaturangaben:
Markus Thielemann: Von Norden rollt ein Donner
C. H. Beck, 2024
287 Seiten, 23 Euro