"Can A Man Cry" - Jah Lil zeigt Verletzlichkeit im Reggae

Stand: 01.07.2024, 00:00 Uhr

Jah Lil hat Reggae einem Update unterzogen, verarbeitet Existenzkrisen und zeigt Verletzlichkeit. Beim Summerjam präsentiert Jah Lil sein Debüt "Can A Man Cry".

Von Ellen Köhlings / Pete Lilly

Jah Lil - "Can A Man Cry" COSMO Album der Woche 01.07.2024 02:52 Min. Verfügbar bis 01.07.2025 COSMO

Jah Lil hat eine starke Präsenz auf der Bühne. Und er hat eine dieser Stimmen, der man sich nicht entziehen kann. Sein emotionaler Gesang schmiegt sich an zeitgemäße Riddims und Beats. Ihm gelingt es, sich mühelos in jedes Genre hineinzufühlen – wie bei dem Afrobeats-Ausflug "Location". Sein Gesang wechselt zwischen bewegendem Klagen, eindringlichem Chanten und zartem Säuseln. Auf seinem Debütalbum "Can A Man Cry" geht es viel um Resilienz und Selbstermächtigung. Jah Lil zeigt sich – im Reggae nicht gerade üblich – von seiner verletzlichen Seite, etwa in der titelgebenden Ballade.

Erster Anlauf

Obwohl Jah Lil bereits seit über zehn Jahren aktiv ist, beschert er uns erst jetzt ein wahres Reggae Statement. Jerome Smith – wie er mit bürgerlichem Namen heißt – wuchs in einem Elternhaus auf, wo alle gesungen haben, wenn auch nicht professionell. So war es für ihn nur natürlich, dies fortzuführen (oder: ebenfalls zu singen). Obwohl seine Stimme sehr ausgereift klingt, hat er keine formale Ausbildung genossen. Seine Tätigkeit als Leiter des Jugendchors in einer Pfingstkirche kommt dem am nächsten. 2011 nahm Jah Lil bei einem bedeutenden Gospel-Wettbewerb in Jamaika teil und ging als Sieger hervor. Dadurch wurden Produzenten auf ihn aufmerksam. Es dauerte nicht lange, bis er von VP Records, einem der wichtigsten Reggae-Labels, gesignt wurde und gleich dreimal auf deren Jahres-Compilations landete, die nicht ohne Grund "Strictly The Best" heißen. Alle prognostizierten dem jungen Sänger eine große Karriere.

Ausgebremst

Doch Jah Lil wurde jäh ausgebremst. Er litt lange Zeit an unerklärlichen Symptomen wie Herzrasen und großer Erschöpfung. Das führte in der Folge zu Todesängsten. Jah Lil war verzweifelt, konnte sich seinen Zustand nicht erklären. Seine Umgebung zog ihn nach einer Weile auf, hielt ihn für einen eingebildeten Kranken. Als ihm niemand helfen konnte, wurde ihm irgendwann eine Depression diagnostiziert. Doch die Psychopharmaka verschlimmerten seinen Zustand nur. Erst viel später stellte ein Arzt Schlafapnoe als Ursache fest. Zwischendurch war Jah Lil immer wieder drauf und dran, seine Musikkarriere an den Nagel zu hängen. Da er jedoch ständig zu hören bekam, dass er sein Talent nicht brachliegen lassen dürfe, besann er sich wieder aufs Singen als seine Bestimmung. Die Erfahrungen jener Zeit verarbeitet der Sänger u.a. auf seinem Debütalbum "Can A Man Cry".

Sich verletzlich machen

Für Jah Lil ist das Singen von Beginn an mehr als eine Karriere. Es ist für ihn auch eine Form der Selbstheilung. In seiner Musik transportiert er Themen, die ihm auf den Nägel brennen und am Herzen liegen. Dinge, die er sich ansonsten scheut anzusprechen. Dabei ist es Jah Lil sehr wichtig, roh und authentisch zu bleiben. Obwohl er aus ärmlichen Verhältnissen stammt, er selbst spricht von einem Ghetto-Background, und rough & tough aufgewachsen ist, räumt er auf "Can A Man Cry" seiner sanften Seite viel Platz ein. Emotionen, die lange im Verborgenen geblieben sind. Jah Lil macht den Menschen hinter dem Künstler greifbar und nahbar. Er macht sich auf seinem Debütalbum verletzlich. Es ist genau diese Verletzlichkeit, die Reggae gefehlt hat, und eigentlich untermauert es genau die Stärke von Lil.

Neuer Anlauf

Mit dem angedubbten One Drop "Step By Step", dem intensiven "Above Water" oder dem HipHop-lastigen "Rebirth" erhebt sich Jah Lil wie Phoenix aus der Asche. Mit dem bewegenden Titelsong möchte der Sänger vor allem seinen Landsmännern Mut machen, Gefühle zuzulassen und zu zeigen. Das autobiografische "Pet Pamper" auf einem vielschichtigen Riddim aus Jazz- und R&B-Einflüssen sowie gechoppten Vokalschnipseln geht über die reine Beschreibung von Symptomen der Armut hinaus. Jah Lil schildert den eigenen Lernprozess, das beste aus einer Situation zu machen, statt sich in Selbstmitleid zu ergehen. Bei allem Weeping & Wailing wirkt "Can A Man Cry" keineswegs bedrückend. Immer wieder gelingt Jah Lil der Dreh ins Positive, was sich manchmal erst auf den zweiten Blick erschließt. Überhaupt ist das Album ein Creeper, der mit jedem Hören wächst, bis er einen nicht mehr loslässt.