Wenn die Polizei tötet, muss das nicht illegal sein

Stand: 03.07.2024, 19:47 Uhr

Das Dortmunder Landgericht klärt, ob die Polizei das Recht hatte, den 16-jährigen Mouhamed Dramé zu erschießen. Dahinter steht das staatliche Gewaltmonopol – das hat Grenzen.

Von Philip Raillon, WDR-Rechtsexperte

Der Fall Mouhamed Dramé hat bundesweit Schlagzeilen gemacht: Die Polizei wird wegen eines Jugendlichen mit einem Messer gerufen. Er hockt im Innenhof einer Jugendeinrichtung in Dortmund, das Messer hält er sich an den Bauch. Der Jugendliche ist nicht ansprechbar, offenbar in einer psychischen Ausnahmesituation.

Die Polizei sprüht erst Pfefferspray auf den Jugendlichen. Als dieser sich daraufhin auf die Beamten zubewegt, schießen zwei von ihnen mit Tasern auf ihn. Fast gleichzeitig feuert ein Beamter sechs Schüsse aus einer Maschinenpistole ab. Wenig später stirbt Mouhamed Dramé im Krankenhaus. Erschossen von der Polizei in der Dortmunder Nordstadt.

Landgericht Dortmund verhandelt zu angeklagten Polizisten

Wie konnte das passieren? Und: Durfte die Polizei schießen, Mouhamed Dramé töten? Das klärt für den konkreten Fall seit einigen Monaten ein Schwurgericht am Landgericht Dortmund. Ob die fünf angeklagten Polizisten verurteilt werden, hängt von vielen Aspekten des Falls ab. Der ist auch deshalb so dramatisch, weil grundsätzlich gilt: Der Staat darf Gewalt anwenden, teilweise muss er das sogar. Der Staat allein hat das sogenannte Gewaltmonopol. Doch wo liegen die Grenzen?

Gewaltmonopol bedeutet, dass grundsätzlich außer dem Staat niemand Gewalt anwenden darf. Privatleute dürfen es zum Beispiel untereinander nur in bestimmten Ausnahmefällen wie in einer Notwehrsituation.

Die Polizei darf Gewalt anwenden, teils sogar töten

Der Staat hingegen darf viel - unter bestimmten Voraussetzungen. Die Polizei darf zum Beispiel in Privatwohnungen eindringen, wenn dort eine Gefahr besteht. Sie darf auch jemanden vorübergehend einsperren. Und: Sie darf in besonderen Fällen körperliche Gewalt gegen Personen anwenden. Sie darf manchmal schießen und unter ganz bestimmten, sehr engen Voraussetzungen sogar töten.

Für all diese Maßnahmen gibt es feste Regeln und Grenzen. Das nordrhein-westfälische Polizeigesetz stellt zum Beispiel klar: „Schusswaffen dürfen gegen Personen nur gebraucht werden, um angriffs- oder fluchtunfähig zu machen.“

Zunächst schützt jeden Einzelnen das Grundgesetz, vor allem das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Der Staat darf trotzdem in manchen Fällen eingreifen. Ob eine staatliche Handlung am Ende in Ordnung ist, hängt dann häufig vom sogenannten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ab.

Entscheidender Maßstab: Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Juristen verstehen darunter eine Prüfungsreihenfolge, die auch die Gerichte anwenden. Dieser Grundsatz ist auch im Fall von Mouhamed Dramé relevant. Denn wenn der Polizeieinsatz nicht verhältnismäßig war, wäre er rechtswidrig – und dann hätte die Polizei auf den 16-Jährigen nicht schießen dürfen. Der Polizist, der die Schüsse abgegeben hat, könnte sich strafbar gemacht haben.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz besteht aus vier Stufen. Dem legitimen Ziel, der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Angemessenheit. Was das genau bedeutet, lässt sich am Beispiel eines schießenden Polizisten erklären.

Vier Prüfungskriterien ergeben die Verhältnismäßigkeit

Erstens muss der Schuss einem legitimen Ziel dienen, etwa dem Schutz der eigenen Gesundheit, weil der Polizist sich selbst unmittelbar einer Gefahr ausgesetzt sieht. Der Schuss muss zweitens geeignet sein, um diesen Zweck zu erreichen – beispielsweise, indem der Angreifer mit dem Schuss gestoppt werden kann.

Der Schuss muss drittens erforderlich sein. Es dürfte also kein anderes Mittel zur Verfügung stehen, das weniger extrem ist als ein Schuss und das dabei trotzdem genauso hätte helfen können. Und viertens muss der Schuss angemessen sein. Das heißt: Wenn man alle Interessen, quasi das Pro und das Contra, abwägt, darf der Einsatz der Waffe mit tödlichen Ausgang nicht völlig übertrieben sein.

Anforderungen für Schusswaffengebrauch

Gerade wenn die Polizei Waffengewalt einsetzt, hat die Rechtsprechung verschiedene Anforderungen entwickelt, die es etwas konkreter machen. Die Polizei muss zum Beispiel zuerst mündlich warnen, dann einen Schuss in die Luft abgeben, dann auf Arme oder Beine schießen.

Und erst ganz zuletzt, wenn das alles nicht geholfen hat, darf sie einen sogenannten  finalen Rettungsschuss abgeben. Diese Staffelung spiegelt sich auch im nordrhein-westfälischen Polizeigesetz wieder.

Entscheidend sind die Umstände des Einzelfalls

Doch was nach einem klaren Maßstab klingt, ist im Einzelfall flexibel. Was ist zum Beispiel, wenn ein Angriff kurz bevorsteht und keine Zeit mehr für einen Warnschuss bleibt? Dann kann der Polizist  – je nach Einzelfall – sofort schießen und dabei trotzdem verhältnismäßig handeln.

Es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft und der Gerichte, solche Fragen zu klären. Wichtig ist: Gerichte sind dabei unabhängig. Sie bewerten die Beweise, die für und gegen den Beschuldigten sprechen. Die Richter sind nur an Recht und Gesetz gebunden – auch darin wird das staatliche Gewaltmonopol deutlich.

War der Einsatz im Fall Dramé rechtswidrig?

Mouhamed Drame | Bildquelle: Privat

Im Fall Mouhamed Dramé liegt der juristisch kritische Punkt unter anderem vor den Schüssen. Die Frage ist – zumindest nach Auffassung der Staatsanwaltschaft –, ob es überhaupt so weit hätte kommen dürfen. Hat die Polizei also quasi den Moment, in dem sie schießen musste, unzulässig provoziert, indem sie den an einer Wand hockenden Jugendlichen mit Pfefferspray attackierte? Und hat Mouhamed Dramé möglicherweise gar nicht angegriffen, sondern ist nur auf die Polizisten zugelaufen?

Die Staatsanwaltschaft bejaht beides, der Einsatz wäre dann nicht verhältnismäßig, er wäre rechtswidrig. Und dann wäre womöglich auch der finale Schuss unzulässig gewesen – das staatliche Gewaltmonopol also missbraucht worden. Die angeklagten Polizistinnen und Polizisten haben vor Gericht angegeben, dass sie sich bedroht gefühlt haben, als Mouhamed Dramé auf sie zukam. Bis zu einem Urteil gilt die Unschuldsvermutung.

Philip Raillon ist Volljurist und als Reporter für den WDR tätig. Außerdem arbeitet er in der ARD-Rechtsredaktion.