Chaotisch, ekstatisch, barbarisch. Die Skandal-Uraufführung des "Sacre du printemps" markierte für die einen das Ende der Kultur, die anderen bejubelten den Aufbruch in eine neue Zeit. "Die Musik kommt frisch und neu aus mir heraus. In meinem Kopf das Bild der alten Frau in einem Eichhörnchenfell. [...] Ich sehe sie vor mir, wie sie vor der Gruppe hin und her rennt, sie manchmal stoppt und den rhythmischen Fluss unterbricht."
In seinem Brief an den russischen Künstler, Forscher und Philosophen Nicolas Roerich schildert Igor Strawinsky im September 1911 die Entstehung der ersten Tanzszene. Die Kollision der gegenläufigen Bewegungen, das unvorhersehbare Stocken und die jähen Richtungswechsel haben sich in die Musik eingeschrieben. Was den Komponisten und seinen Bühnenbildner Roerich bei der Arbeit antrieb, war die Vision eines archaischen Rituals.
"Paris aber war unpässlich"
Das Publikum der Pariser Uraufführung trifft die wilde, entfesselte Kraft des "Frühlingsopfers" knapp zwei Jahre später wie ein Schlag. Die Tänzer der berühmten Ballets Russes stampfen mit den flachen Füßen auf den Bühnenboden, dass die Bretter zittern. Im Hintergrund ein betont einfaches Landschaftsbild. Keine Spur mehr von der luxuriösen Opulenz und übersteigerten Raffinesse vorausgegangener Produktionen wie dem "Feuervogel".
Im Rückblick ist es schwer zu sagen, was die rund zweitausend Besucherinnen und Besucher im Théâtre des Champs Elysées am 29. Mai 1913 mehr schockierte: die Musik von Igor Strawinsky, die Choreografie von Vaslav Nijinsky oder die Ausstattung von Nicolas Roerich. Die Uraufführung des "Sacre" ging als Jahrhundertskandal in die Musikgeschichte ein. Es wurde höhnisch gelacht, gestritten und gepfiffen. So manche spektakuläre Anekdote von verstörten Aristokratinnen, Verabredungen zum Duell und Polizeieinsätzen wurde aber wohl erst im Nachhinein hinzugedichtet.
Dem geschäftssinnigen Impresario der Ballets Russes, Sergej Diaghilew, kam der Skandal gerade recht, denn er verhieß Aufmerksamkeit. Er selbst hatte einen Teil der Plätze gekauft und an Studierende, Kunstschaffende und Fans vergeben, um die Stimmung anzuheizen und der erwarteten Empörung des Establishments lautstarke Begeisterung entgegenzusetzen. Während der Dirigent Pierre Monteux die Uraufführung mit der "Ruhe eines Krokodils" zu Ende brachte, wie Strawinsky bewundernd kommentierte, äußerte er selbst sich der New York Times gegenüber zugleich gekränkt, aber auch zuversichtlich: "Zweifellos wird man eines Tages verstehen, dass ich einen Überraschungscoup auf Paris gelandet habe, Paris aber unpässlich war".
Suche nach einer Erneuerung der Kunst
Tatsächlich war das "Frühlingsopfer" für viele der Anwesenden und späteren Hörerinnen und Hörer ein Erweckungserlebnis. Die kalligrafisch kunstvoll ausgearbeitete Partitur konfrontiert mit rohen Klangballungen, Repetitionen und kraftvollen Harmonien, in denen ferne Tonarten aufeinanderprallen. Mit rhythmischen Überlagerungen, Akzentverschiebungen, wilden Steigerungen und einer perkussiven Klanglichkeit, die aus dem Einsatz vieler Schlaginstrumente, aber auch aus der Bogenführung der Streicher resultiert, schafft Strawinsky Eindrücke, die dem ursprünglichen Charakter eines Rituals nahekommen.
Im Mittelpunkt dieses Rituals steht ein Mädchen, das sich freiwillig dem Frühling opfert und sich zu Tode tanzt. Der Skandal der Uraufführung ist ein Zeichen dafür, dass der Komponist auf der Suche nach der Rückkehr zu seinen russischen Wurzeln etwas geschaffen hatte, wonach sich Teile der Gesellschaft damals sehnten. Wie die Fauvisten und Kubisten sucht auch Strawinsky nach einer Erneuerung der Kunst, indem er an die Kultur scheinbar primitiver Völker anknüpft.
Die Vorbereitungen führten ihn zurück nach Russland. Im Zentrum für Volkskunst in Talaschkino bei Smolensk forschte Strawinsky gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Nicolas Roerich nach Ritualen slawischer Stämme. Der Komponist notierte sich auch alte Volkslieder, wie jene litauische Melodie, die dem Fagottsolo der Introduktion des ersten Teils zugrunde liegt. Fagottisten hat die, für ihr Instrument, unbequem hohe Lage von Anfang an irritiert. Tatsächlich hatte Strawinsky nicht das Fagott, sondern ein russisches Rohrblattinstrument im Ohr, als er die Partie komponierte und in den Skizzen mit dem Vermerk "für Dudki" versah. In der Partitur findet sich kein Hinweis auf das Hirteninstrument. Erhalten ist jedoch ein Kostümentwurf von Nicolas Roerich. Er zeigt einen jungen Tänzer, der ein schwarzes Naturhorn bläst.