Das stilistische Chamäleon Igor Strawinsky erfand sich immer wieder neu. Nach der Opulenz des "Feuervogel" und dem Schock des "Sacre du printemps" vollzog er eine Wende. Anstatt die Provokationen des "Sacre" noch übertreffen zu wollen, grub er in der vergessenen "Alten Musik" – und war auch hier, wie so oft, unter den Ersten. Strawinskys Ballett "Pulcinella" entzückte im Mai 1920 das Pariser Publikum in einer neuen Premiere der Ballets Russes, der legendären Compagnie des Impresarios Sergej Diaghilew. Der gefeierte Tänzer Léonide Massine kreierte die Hauptrolle, entwarf Libretto und Choreografie. Ernest Ansermet stand am Dirigentenpult, Pablo Picasso, mit dem Strawinsky 1917 nach Italien gereist war, gestaltete Bühne und Kostüme.
Es war Diaghilews Idee, die Tradition des süditalienischen Volkstheaters, der Commedia dell’arte, wiederzubeleben. Die maskentragenden Figuren wie der schlaue Harlekin Pulcinella waren vom 17. bis zum 19. Jahrhundert in ganz Europa populär. Diaghilew förderte eine um 1700 entstandene Verwechslungskomödie zutage: "Vier gleiche Pulcinellas". Für die musikalische Grundlage fand er in den Archiven von Neapel und London Kompositionen, die man Giovanni Battista Pergolesi zuschrieb (damals wie heute hauptsächlich durch sein "Stabat mater" bekannt). Strawinsky war zunächst wenig begeistert, tauchte aber allmählich in die Welt des 18. Jahrhunderts ein: "'Pulcinella' war meine Entdeckung der Vergangenheit, die Epiphanie, durch die mein ganzes Spätwerk erst ermöglicht wurde. Es war natürlich ein Blick zurück – der erste von vielen Liebesaffären in diese Richtung –, aber es war auch ein Blick in den Spiegel", erinnerte er sich. Und die spätere Entdeckung, dass die Vorlage gar nicht komplett von Pergolesi, sondern auch von weniger bekannten Komponisten des 18. Jahrhunderts stammt, hat dem Erfolg keinen Abbruch getan.
Strawinsky arrangierte nicht einfach nur die Vorlage neu, sondern entwickelte ihre Themen und Motive weiter, zerriss die gleichmäßigen Perioden, schärfte und modernisierte ihren Zuschnitt. Er setzte sich quasi selbst die Maske des Harlekins Pulcinella auf und zog der Musik mit seinen eigenen Rhythmen und Harmonien ein neues Gewand an, zitiert auch einmal Beethoven. So entwickelte er seinen eigenen folgenreichen Stil des Neoklassizismus. Auf den Bühnen ist "Pulcinella" nicht ganz so beliebt wie der "Sacre", und im Konzertsaal ist meist die Suite von 1922 zu hören. In der vollständigen Ballettmusik bieten drei Gesangssolisten ihre Arien und Ensembles – teils im neapolitanischen Dialekt – zur Begleitung eines Kammerorchesters dar. Mit den typischen Verwechslungen und Intrigen der Commedia dell’arte purzelt der gewitzte Pulcinella durch die Handlung. Eifersüchtige Rivalen trachten ihm nach dem Leben, doch Pulcinella schickt sein Double in den Kampf. Den vermeintlich Toten erweckt er in der Verkleidung als Zauberer wieder zum Leben und heiratet schließlich seine Geliebte Pimpinella.
Die Ballets Russes zeigten sich überrascht von der kleinen Orchesterbesetzung – war man in der Zusammenarbeit doch die großen Klangapparate von "Feuervogel", "Petruschka" und "Sacre" gewohnt. Während der Krise des Ersten Weltkriegs aber ging Strawinsky, der stets auch die Aufführungsmöglichkeiten seiner Werke im Auge behielt, zu Kammerformaten über, exemplarisch in der "Geschichte vom Soldaten". Léonide Massine hatte seine Choreografie viel grandioser angelegt, was sich nun während der Proben im Herbst 1919 als unpassend zum Zuschnitt der Musik erwies. Strawinsky erinnerte sich lapidar: "Man hatte sich nach eigenem Geschmack ein Wunschbild gemacht, das ganz anders aussah als meine Partitur. Also musste die Choreografie geändert und dem Klangvolumen meines Orchesters angepasst werden. Das war für alle Beteiligten sehr langweilig, aber es gab keinen anderen Ausweg, und das sahen sie ein." Dass auch in anderen Zeiten einmal die praktische kleine Besetzung von großem Vorteil sein würde, konnte Strawinsky noch nicht ahnen.