Was tun als einer der führenden Komponisten der Sowjetunion, wenn der "Große Vaterländische Krieg" gegen Hitlerdeutschland gewonnen ist? – Die große heroische Sinfonie komponieren und damit dem Diktator Stalin huldigen? Und: Was tun als Sinfonie-Komponist, wenn die eigene Neunte ansteht? – Beethoven zu übertrumpfen versuchen?
Mutig, wenn nicht todesmutig, versperrt Dmitrij Schostakowitsch sich 1945 gegenüber allen Erwartungen der Sowjetmacht. Er komponiert sie zwar, seine Neunte, wählt dafür sogar die Tonart Es-Dur – spätestens seit Beethovens Dritter die heroische Tonart schlechthin. Doch mit einer kecken, bei der Wiener Klassik stibitzenden Musiksprache dreht Schostakowitsch allen eine Nase. Und er spickt das Werk obendrein mit frechen Scherzen. Etwa gleich im ersten Satz, wo er den fast Haydn’schen Beginn mit vielen 'falschen' Tönen würzt und bald die Posaune fanfarenhaft dreinfahren lässt. Oder am Anfang des vierten Satzes: Ist das Quasi-Zitat aus dem Schlussteil von Mussorgskis "Bildern einer Ausstellung" eine Parodie auf den unmenschlichen Herrscher Stalin? Heute erhält dieses Zitat einen aktuellen Bezug, angesichts des von Mussorgski gewählten Titels: "Das große Tor von Kiew".
Der Finalsatz klingt dann wie ein sogenannter "Freilach"-Tanz der jüdischen Klezmer-Musik – die von den sowjetischen Apparatschiks erwartete Siegesfeier in Tönen bleibt also regelrecht trotzig aus. Kurz: Schostakowitschs Neunte ist nichts weniger als ein gefährliches Sich-Widersetzen gegenüber Stalins mörderischem Regime. Und die Reaktion kommt – zwar mit fast dreijähriger Verzögerung, aber dafür umso niederschmetternder. Schostakowitsch und andere Künstler werden öffentlich des Formalismus bezichtigt – im Sowjetstaat das ästhetische Todesurteil. Damit ist er als Komponist quasi zum Schweigen verurteilt. Erst Jahre später, durch Stalins Tod 1953, ist Schostakowitsch befreit und kann dem Publikum seine zehnte Sinfonie vorstellen.