Werkeinführung: Mel Bonis – Salomé op. 100 Nr. 2

Von Otto Hagedorn

Es sieht gut aus für die Kompositionsstudentin Mélanie Bonis. Nachdem César Franck das musikalische Talent der 18-Jährigen entdeckt und ihren Eltern das Einverständnis abgetrotzt hatte, sie am Pariser Conservatoire studieren zu lassen, hat sie 1881 die Chance, in die Anwärterklasse für den Prix de Rome aufgenommen zu werden, den bedeutendsten Kompositionspreis Frankreichs. Zu dieser Zeit macht ihr ein Studienkollege Avancen. Bonis’ Eltern fürchten für sie eine Zukunft in Mittellosigkeit und verbieten ihr diese Heirat. Zudem hat sie das Konservatorium zu verlassen und zwei Jahre später einen 22 Jahre älteren zweifachen Witwer zu ehelichen. Immerhin: Er ist vermögend, und Bonis, katholisch-demütig erzogen, fügt sich dem Willen ihrer Eltern. Fortan kümmert sie sich um die fünf Kinder, die ihr Mann mit in die Ehe bringt. Im Laufe der Jahre bekommt sie selbst drei weitere Nachkommen. Als pflichtbewusste Ehefrau stellt sie ihre Ambitionen als Komponistin zurück.

Aber bei Konzerten begegnet Mélanie Bonis ihrer alten Liebe wieder, und sie geht eine außereheliche Liaison ein. Gemeinsam haben beide auch eine Tochter, die Bonis heimlich in der Schweiz zur Welt bringt und bei Pflegeeltern aufwachsen lässt – eine andere Möglichkeit sieht sie durch ihren strengen katholischen Glauben nicht. Als die Kinder aus dem Gröbsten heraus sind, findet Bonis wieder Zeit zum Komponieren. Nach einer Aufführung ihres ersten Klavierquartetts soll Camille Saint-Saëns bemerkt haben: "Sie kennt alle geschickten Tricks des Komponistenhandwerks."

Unter dem Pseudonym Mel Bonis erscheinen nach und nach mehrere Kompositionen im Druck, vor allem geistliche sowie Vokal- und Orgelwerke und Klavierstücke, mit denen sie auch einige Preise gewinnt. Zwischen 1897 und 1913 entstehen sieben Klavierminiaturen, in denen literarische und mythologische Frauen im Zentrum stehen. Drei Stücke instrumentiert Bonis für Orchester, darunter auch "Salomé". Das Blutrünstige der Geschichte, nachdem Salome den Kopf von Johannes dem Täufer gefordert hat, klingt – ganz anders als in Strauss’ Operneinakter von 1905 – in Bonis’ impressionistischem Porträt nicht an. Im Zentrum steht ganz der verführerische Tanz.