Diplompsychologin Gisela Heuser im Gespräch zur Sinfonie Nr. 6 a-Moll von Gustav Mahler (1860 – 1911)
WDR: Dramatische Verhältnisse werden oftmals als Triebfeder für die künstlerische Arbeit beschrieben. Wenn man sich die Lebensstationen bei Gustav Mahler anschaut, ist das nachvollziehbar. Nach außen hin war Mahler ein erfolgreicher Mann, sowohl als Dirigent, und am Ende seines Lebens auch als Komponist. Hinter den Fassaden sieht das allerdings ganz anders aus.
Gisela Heuser: Ja, das stimmt. In der Familie, aus der Mahler stammt, gab es elf Söhne und drei Töchter, und von diesen Geschwistern sind sechs gestorben, als Gustav Mahler ein Kind war. Er selbst ist nach dem ältesten Sohn geboren, der bereits im Alter von einem Jahr gestorben ist. Mahler ist quasi mit dem Tod auf die Welt gekommen. Sein Lieblingsbruder starb, als Gustav 13 Jahre alt war. Er hatte also schon sehr viel mit dem Tod zu tun, bevor er richtig in diesem Leben war. Ich denke, dass Gustav und seine Frau Alma in einer Epoche gelebt haben, in der alte Strukturen auf- und umgebrochen worden sind. Mahler ist also in eine Welt, in eine Situation gekommen, in der das Gefühl "es stirbt etwas" stark vorherrschte. "Es stirbt etwas" kann man als eine Art "Glaubenssatz", eine Art Struktur oder auch Muster im Leben von Gustav Mahler sehen.
WDR: Neben der unmittelbaren Erfahrung mit dem Tod sind es die Krankheiten, die Mahlers Leben entscheidend bestimmt haben.
Heuser: Mahler hatte Probleme mit dem Darm, die schließlich nur nach einer radikalen Operation geheilt wurden. Wenn Konflikte unbewusst bleiben, drücken sie sich auf der Körperebene aus. Der Darm steht als Organ dafür, dass Unverdautes in ihm gärt, bisweilen schmerzt und den Körper letztendlich verlässt. Unter Schmerzen hat Mahler in jener Zeit alte Strukturen, auch familiäre, vielleicht sogar gesellschaftliche Themen mit sich herumgetragen und all dies "durchkaut" und verwandelt. Zudem litt Mahler unter Migräne. Dies ist ein Zeichen von Blockaden sowohl im Kopf als auch auf sexuellem Gebiet. Und so finde ich für sein Leben sehr bezeichnend, dass er sich eine Frau wie Alma aussucht. Mit ihr wählt er eine Frau, die sexuell sehr aktiv und sehr interessiert ist. Und damit steuert Mahler auf einen inneren Konflikt, auf eine Reibung, zu. Ich würde etwas gewagt sagen, dass Künstler*innen nicht Künstler*innen werden, wenn sie etwas Schlimmes erleben, sondern mit der Absicht, Künstler*in zu sein, auf die Welt kommen und sich in eine Konstellation hineinbegeben, wo sie ausreichend Material bekommen, das sie dann kreativ bearbeiten.
WDR: In der Musikwissenschaft wird Mahlers Werk oft als das letzte große Aufbäumen des 19. Jahrhunderts oder auch als eine Art Abgesang beschrieben. Mahlers Werke zeichnen sich durch Risse und Schattenseiten aus. Dies sind auf der anderen Seite auch deutliche Anzeichen für einen Neubeginn.
Heuser: Mahler hat sich in seine Zeit hineingestellt und interpretiert, was los ist. Und so, wie Künstler*innen immer sagen: "hier stehe ich und kann nicht anders", hat Mahler auch reagiert. In der 6. Sinfonie ist mir im ersten Satz das monotone Marschieren aufgefallen. Es steht für das immer Gleiche und damit für das Alte. Es steht auch für Sätze wie: "Es muss immer so weitergehen, weil es immer so war." Mit diesem Rhythmus stellt Mahler so etwas wie ein altes Lebensthema voran, das im Verlauf der Sinfonie dann immer mehr aufbricht. Aus dem "es war immer so" wird im Verlauf der Sinfonie ein "so geht es nicht". Mahler hat dafür Töne gefunden, und die Menschen, die zu seiner Zeit seine Musik gehört haben, haben dies sicher auch so empfunden.
WDR: Interessant im ersten Satz der 6. Sinfonie ist, dass Mahler ihm die sogenannte Sonatenhauptsatzform zugrunde legt. Er benutzt damit ein Formmodell, das von Haydn, Mozart und Beethoven entwickelt wurde. Mahler setzt hier auf die Konvention.
Heuser: Auf Konventionen greift man zurück, wenn man sich unsicher fühlt. Mahler hat das Gefühl der Unsicherheit gut gekannt. Es begann schon in seiner Familie: Er war Jude und er war ein kleiner Mann. Mahler war hin- und hergeworfen: Auf der einen Seite wollte er es so machen wie alle, dafür hätte er ein sicheres Konzept gehabt. Und das mit der Aussicht auf Erfolg. Und auf der anderen Seite wollte er zum Ausdruck bringen, was er fühlt. Dazu gehörte Mut. Diesen Konflikt spüre ich im ersten Satz der 6. Sinfonie. Die Musik führt uns in etwas rauschhaft Romantisches, aber auch in etwas Beharrendes. Auf der anderen Seite will Mahler weitergehen, er will Dinge verwandeln und weitertreiben, glaubt aber im tiefsten Inneren nicht, dass es ihm gelingen könne. Mahlers Sicherheitsbedürfnis steht einem wirklichen Fortgang immer im Weg. Mahler entwickelte das Gefühl, weiterzumüssen, obwohl er ganz viel Angst davor hatte. Mahler hatte Angst vor dem Fremdsein.
Das Gespräch führte Michael Krügerke.