Wie selbstbestimmt ist der Mensch – und wie viel wiegt sein persönlicher Anspruch auf Freiheit gegenüber einem kollektiven "Schicksal"? Diese Fragen dürfte sich Johann Wolfgang von Goethe beim Verfassen seines Trauerspiels "Egmont" ebenso gestellt haben wie Beethoven bei der Komposition seiner "Egmont"-Musik. Die Handlung aus dem 16. Jahrhundert hat Goethe schon als junger Anwalt in Frankfurt ins Auge gefasst: den Konflikt nämlich zwischen dem flandrischen Grafen Egmont und Herzog Alba, dem skrupellosen Repräsentanten der spanischen Fremdherrschaft in den Niederlanden. Den Einsatz für die Unabhängigkeit seines Volkes muss der geradlinige Egmont am Ende mit dem Tod bezahlen – und für dieses Ende stellte sich Goethe die visionäre Erscheinung der "Freyheit in himmlischem Gewande" vor, die schon Friedrich Schiller als allzu gewagten "Salto mortale in eine Opernwelt" empfand. Allerdings war das Opernhafte und Musikalische fester Bestandteil von Goethes Dramenkonzept für "Egmont". Klärchen, die Geliebte des Grafen, stimmt zwei Lieder an, Regieanweisungen fordern Melodramen und Szenenmusiken, am Ende gar eine "Siegessymphonie". Und nach dem Usus der Zeit wären wohl noch eine Ouvertüre und mehrere Zwischenaktmusiken hinzugekommen. Welche Musik bei der Mainzer Uraufführung des Trauerspiels im Jahr 1789 erklang, ist unbekannt, wahrscheinlich stammte sie von Goethes Musikerfreund Philipp Christoph Kayser. Interessanter ist, dass die Geschichte des Freiheitshelden Egmont in den zwei Jahrzehnten zwischen der Uraufführung und der Wiener Premiere mit Beethovens Musik im Juni 1810 eine der unruhigsten Phasen der europäischen Politik begleitete – geprägt von der Französischen Revolution und dem Aufstieg Napoleons vom Freiheitshelden zum Eroberer.
1805 wurde Wien erstmals von den Franzosen besetzt, und auch der Gegenstoß der Österreicher im Jahr 1809 sollte in der Schlacht bei Wagram mit einer blutigen Niederlage enden. Beethovens Hoffnung auf den prometheischen Freiheitsbringer Bonaparte, die er mit vielen Intellektuellen der Zeit geteilt hatte, war der Enttäuschung über den skrupellosen Usurpator gewichen, der ihm im Sommer 1809 durch die kriegsbedingte Inflation auch noch den Urlaub auf dem Land vermasselte. Man darf deshalb vermuten, dass Beethoven den Auftrag zur Schauspielmusik durch das Wiener Burgtheater nicht nur aus "Liebe zum Dichter" annahm, sondern auch, weil er sich mit dem politischen Inhalt des Dramas identifizierte. Während die meisten Nummern von Beethovens "Egmont"-Musik vergessen sind, wurde die Ouvertüre zum Repertoirestück – übrigens auch in totalitären Systemen, die Goethes und Beethovens Parteinahme für die Sache der Freiheit propagandistisch umdeuteten. In der Musik werden die Fronten gleich zu Beginn geklärt: Die schwer lastenden Streicherakkorde schildern die schwere Bürde auf den Schultern der Flamen und Niederländer – manche haben in den Akkorden im 3/2-Takt sogar die Stilisierung einer spanischen Sarabande als Attribut für den Herzog von Alba gesehen. Der Allegro-Hauptteil, in dem die markanten Akkorde immer wieder als schwelende Bedrohung auftauchen, ist geprägt von hektischer Aktivität (der Aufständischen?), am Ende erklingt mit Trompetendonner jene "Siegessymphonie", zu der der innerlich geklärte und todesbereite Egmont seinem Hinrichtungskommando entgegenschreitet.