Klischee 1: Das Europaparlament ist nur eine Quasselbude
Ja, es wird sehr viel geredet im Europäischen Parlament in Straßburg - und zwar in bis zu 24 Amts- und Arbeitssprachen. Häufig auch mal durch und gegeneinander und gerne über die streng begrenzte Redezeit hinaus. Allein am Rednerpult sind in den vergangenen fünf Jahren 55.000 Minuten (umgerechnet mehr als 916 Stunden) zusammengekommen.
Bei allem Gerede hat das Parlament aber auch wirklich was zu sagen: 370 Gesetze hat es in der nun endenden Legislaturperiode debattiert, angenommen und unterzeichnet.
Überhaupt hat sich das gesamte Parlament über die Jahre und Jahrzehnte immer mehr Macht erkämpft - vor allem, wenn es darum geht, wieviel Geld Europa ausgeben darf und wofür.
Auch wenn es um Top-Personalien in der EU geht, läuft nichts ohne Zustimmung aus Straßburg. Chef der Kommission, also Präsidentin oder Präsident, wird nur, wer die Abgeordneten mehrheitlich überzeugt. Und dann geht es erst los: Die Parlamentarier kontrollieren die Arbeit der EU-Kommissare und können ihnen mit Untersuchungsausschüssen das Leben schwer machen.
Ruhiger dürfte es in der mächtigen Quasselbude nach der Wahl nicht werden: 15 weitere Sitze kommen ab Juli im neuen Parlament dazu, so dass dann 720 Abgeordnete Gesetze für die knapp eine halbe Milliarde Europäerinnen und Europäer diskutieren.
Klischee 2: Die EU ist ein aufgeblähter Apparat
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) ist eine von mehr als 60.000 Menschen, die für die europäischen Institutionen arbeiten. Sie sind für fast eine halbe Milliarde Menschen in den 27 Mitgliedsstaaten zuständig. Damit kommt ungefähr ein EU-Mitarbeiter auf 9.000 Einwohner.
Zum Vergleich: Für die Stadt Köln arbeiten rund 22.000 Menschen für knapp eine Million Einwohner. Das ergibt ein Verhältnis von einem Beamten für 46 Bürger.
Klischee 3: Die EU reguliert zu viel Sinnloses
Fast alle kennen sie: die gekrümmte Gurke - das etwas in die Jahre gekommene Symbolbild von Regulierungswut, das seinen Ursprung in einer Verordnung hat, die es schon längst nicht mehr gibt.
Die EU reguliert naturgemäß viel dort, wo sie alleine oder vorwiegend zuständig ist. Das sind internationale Handelsbeziehungen, der Binnenmarkt, die Landwirtschaft oder die Fischerei. Dagegen hat die EU in den Bereichen Beschäftigung, Soziales und Gesundheit nach wie vor wenig zu melden.
Vor rund zehn Jahren gab es noch ungefähr 4.600 grundlegende Rechtsakte in der EU. Heute sind es knapp 6.500 Richtlinien, Gesetze und Verordnungen. Zum Vergleich: In Deutschland sind es 5.600.
Das klingt alles erst einmal viel. Es bringt aber kaum weiter, nur auf die Zahlen zu blicken. Entscheidender ist am Ende die Qualität der Vorschriften. Und die ist sehr unterschiedlich.
Seit einigen Monaten ziehen vor allem Liberale und Christdemokraten gegen die Bürokratie zu Felde und fordern einen allgemeinen Regulierungsstopp. Unter dem Druck von Bauernprotesten sind zuletzt in kürzester Zeit bürokratische Vorgaben zum Umweltschutz zurückgenommen worden .
Die EU-Gesetzgebung ist also flexibel, unterliegt auch der politischen Großwetterlage. Hinzu kommt: Forderungen und Anträge nach neuen Gesetzen kommen oft nicht aus der Politik selbst, sondern von extern - so wie einst bei der Gurke.
Der Wunsch, die Form von Gurken zu vereinheitlichen, stammte nämlich aus dem Handel. Der simple Grund: Gerade Gurken könnten leichter gestapelt und transportiert werden als krumme.
Für WDR-Korrespondent Thomas Spickhofen stimmt das Klischee der Überregulierung deswegen nicht: "Ja, es gibt ein paar skurrile Abwege, keine Frage. Aber es ist nicht so, dass das alles in einem Elfenbeinturm entsteht, sondern weil die Mitgliedsländer das in Auftrag gegeben haben oder weil jemand einen Antrag gestellt hat."
Und vieles, was dann von der EU entschieden wird, greift stärker in unseren Alltag ein, als wir glauben:
Nur noch ein Ladekabel: Handy, Tablet, Kopfhörer, Digitalkameras oder auch Spielekonsolen brauchen oft je nach Hersteller verschiedene Ladekabel. Damit ist künftig Schluss. Nach einer EU-Richtlinie werden einheitliche Ladekabel und Ladestecker Ende 2024 Pflicht. Dann wird USB-C Standard für Ladekabel.
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Klischee 4: Die EU entscheidet über unsere Köpfe hinweg
"Dieses Gefühl hat vor allem etwas mit der Unübersichtlichkeit der EU und deren Arbeit zu tun. Und natürlich mit Politikern, die das ausnutzen, um unliebsame Dinge zu beschließen, die die Bürger erst sehr viel später betreffen", sagt WDR-Korrespondent Andreas Meyer-Feist.
Die EU veröffentlicht nahezu wöchentlich und in bestimmt guter Absicht einen riesigen Wust an Protokollen. Das Ziel: gute Erklärungen und Transparenz. Leider sind die Erklärungen oft unverständlich und unübersichtlich. Was aber zählt, ist eine demokratisch gewählte Regierung. Und die gibt es.
Denn EU-Entscheidungen werden von zwei Institutionen gemeinsam getroffen: zum einen von Abgeordneten im Europäischen Parlament, die wir direkt wählen können, zum anderen vom Europäischen Rat, in dem die Bundesregierung vertreten ist.
Klischee 5: Deutschland ist der Zahlmeister der EU
Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann stimmt das: Deutschland zahlt mit Abstand am meisten in den europäischen Haushalt ein - mehr als 30 Milliarden Euro brutto jährlich. Dahinter folgen Frankreich, Italien und Spanien.
Wenn man rausrechnet, was aus den Fördertöpfen wieder zurückkommt, zum Beispiel für die Landwirtschaft oder strukturschwache Regionen wie das Ruhrgebiet, bleiben am Ende immer noch 19,7 Milliarden Euro, die Deutschland mehr einzahlt als einnimmt. Das sind durchschnittlich 237 Euro pro Bürger. Aber warum ist das so?
Die Regeln sind in der EU so, dass die wohlhabenden Länder schwächere Regionen unterstützen, damit sich die Lebensverhältnisse nach und nach angleichen. Deshalb ist es kein Wunder, dass Deutschland am meisten zahlt. Schließlich sind wir die größte Volkswirtschaft in der EU mit der größten Wirtschaftskraft. Aber was bringt uns das?
"Man kann das nicht einfach durch schlichtes Gegenrechnen von Einnahmen und Ausgaben ermitteln", sagt WDR-Korrespondentin Helga Schmidt. Klar ist aber: Deutschland ist viel abhängiger vom Export als die meisten Partnerländer. Und die Hälfte des deutschen Exports geht in den Binnenmarkt, also an die Partner.
Heißt am Ende: Deutschland zahlt viel ein. Die deutsche Wirtschaft profitiert aber auch besonders davon.
Klischee 6: Brüssel ist in der Hand der Lobbyisten
"Brüssel ist ein Paradies für Lobbyisten", sagt WDR-Korrespondentin Helga Schmidt. Denn hier werden die Regeln für den größten Binnenmarkt der Welt bestimmt. Kein Wunder also, dass Interessengruppen versuchen, die Regeln mitzugestalten. Rund 12.000 Lobbyisten sind in Brüssel registriert - die großen Verbände der Chemie- und Autoindustrie genauso wie Umweltgruppen, NGOs und Denkfabriken.
Keine Branche steckt so viel Geld in die Lobbyarbeit wie die großen amerikanischen Internetkonzerne. An der Spitze liegt Meta, Betreiber der sozialen Netzwerke Facebook und Instagram, mit Investitionen von zuletzt acht Millionen Euro pro Jahr.
Gleich dahinter folgt der Chemiekonzern Bayer: Das Leverkusener Unternehmen ließ sich die Lobbyarbeit in Brüssel allein im Jahr 2022 sieben Millionen Euro kosten.
"Die Erfolge der Lobbyisten lassen sich jedoch von außen schwer beurteilen und noch schwerer nachweisen", sagt Schmidt. Die Grenzen zwischen fragwürdiger Einflussnahme einerseits und andererseits fachlicher Beratung, die die Kommissionsspitze und die Abgeordneten für ihre Entscheidungen brauchen, seien nämlich fließend.
Einfluss von Lobbygruppen auf Gesetze gibt es nicht nur in Brüssel, sondern auch in anderen Hauptstädten. In Brüssel herrschen im internationalen Vergleich strenge Regeln. Treffen mit Abgeordneten und hohen Kommissionsvertretern zum Beispiel müssen dokumentiert und offengelegt werden. Dafür gibt es ein eigenes Transparenzregister.
Klischee 7: EU-Politiker verschlingen Millionen, weil sie viel pendeln.
Eigentlich sitzen und arbeiten die EU-Abgeordneten, deren Mitarbeiter und Journalisten in Brüssel. Einmal im Monat reisen jedoch alle nach Straßburg: Dort hat das Europäische Parlament seinen Hauptsitz, an dem in der Regel das Plenum tagt.
Martin Schirdewan, Fraktionschef der Linken im EU-Parlament, wollte wissen, was das kostet und hat Zahlen beim Wissenschaftlichen Dienst des Europaparlaments erfragt. Demnach soll die Pendelei im Jahr 2022 rund 63 Millionen Euro gekostet haben. Nicht eingerechnet sind die Kosten für die Züge und Lkw.
Immer wieder gibt es deswegen Bestrebungen, den teuren "Wanderzirkus" zu stoppen und die Arbeit des Parlaments vollständig nach Brüssel zu verlegen. Dort haben auch die Europäische Kommission und der Rat der Mitgliedstaaten ihren Hauptsitz. Einer Änderung müssten die Franzosen zustimmen - die wollen den Standort Straßburg aber nicht aufgeben.
Unsere Quellen:
- WDR-Korrespondenten in Brüssel
- Europäische Kommission
- Europäisches Parlament
- Institut der deutschen Wirtschaft
- Nachrichtenagentur AFP
- Nachrichtenagentur dpa
- ZDF heute.de
- Stadt Köln