Politikstunde mal anders in der 10. Klasse an der Christophorusschule in Königswinter bei Bonn: Zu Gast sind zwei junge Dozenten der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Es geht um Europapolitik. Hannah ist Schülerin und hält ein Bild in die Runde, das für sie damit zu tun hat.
Das Bild zeigt mehrere Dutzend Flüchtlinge auf einem Schlauchboot. Sie sitzen gedrängt. Das Boot ist überladen, liegt tief im Wasser. Es ist eine gefährliche Reise, organisiert von einem Schleuser. Die EU, sagt Hannah, stehe für Freiheit: "Ich denke, dass die Flüchtlinge deswegen kommen." Flüchtlinge, Kriege, Freiheit: Das sind Themen, die bewegen bei der Europawahl 2024. Das gilt auch für Erstwähler.
Elias: "Ich denke, dass diese Kooperationen sehr wichtig sind, damit diese Länder in sich funktionieren können."
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Europa hat eine große Bedeutung für die Schüler der Christophorusschule Königswinter. Damit stehen sie nicht alleine da, sagt der Generationen- und Jugendforscher Klaus Hurrelmann von der Berliner Hertie School mit Blick auf verschiedene Studien: "Europa ist sehr positiv besetzt in der jungen Generation." So gaben in der Eurobarometer-Umfrage des Europäischen Parlaments 91 Prozent der 15- bis 24-Jährigen an, dass die Teilnahme an den Europawahlen für sie wichtig sei.
"Probleme können nur global gelöst werden"
Eine mögliche Erklärung dafür hat Holger Hofmann, Vorsitzender des Deutschen Kinderhilfswerks. Für Jugendliche sei Europa etwas, das sie viel selbstverständlicher wahrnähmen als andere Altersgruppen: "Ihnen ist bereits klar, dass die Probleme, die sie in der Welt erwarten, nur global gelöst werden können."
Was der Jugendforscher Simon Schnetzer dagegen für die Altersgruppe der 16- bis 21-Jährigen aus den Daten seiner repräsentativen Jugendtrendstudie 2024 ausrechnet, ist nicht ganz so uneingeschränkt pro Europa: Nur etwa zwei Drittel der Befragten aus der Altersgruppe der Erstwähler bewerteten die Aussage "Deutschland wäre ohne die EU-besser dran" mit "stimme eher nicht zu" und "stimme überhaupt nicht zu". 8,4 Prozent von ihnen stimmten dieser Aussage "voll und ganz" oder "eher" zu; jeder Fünfte antwortete noch mit "teils, teils".
Interessiert - aber auch reif genug?
Interesse an Europa ist das eine. Kritiker argumentieren aber, dass 16-Jährige nicht über die Reife und das Wissen verfügten, um kluge Wahlentscheidungen zu treffen. Dem widerspricht die Entwicklungspsychologin Anna Lang von der Uni Erfurt. Sie hat Chancen und Risiken erforscht, die mit der Absenkung des Wahlalters einhergehen. "Wenn wir von 16-, 17-Jährigen sprechen, dann kann man sagen, dass sie kognitiv auf dem Level von Erwachsenen sind", sagt Lang. Allerdings sind im Vergleich zu Erwachsenen sehr viele junge Menschen unsicher, wen sie im Juni wählen sollen.
Welcher Partei stehen Erstwähler nahe?
Das zeigen auch Angaben von 16- bis 21-Jährigen, die bei der Studie "Jugend in Deutschland 2024" mitgemacht haben. Die Daten wurden im Januar und Februar 2024 gesammelt. Auf die Frage "Wenn kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre: Welche Partei würdest du wählen? (Zweitstimme)" antwortet ein Viertel: "Ich weiß es nicht". CDU/CSU und Grüne sind etwa Kopf an Kopf mit jeweils etwas mehr als 12 Prozent. Die AfD liegt dicht dahinter - mit nicht mal einem Prozentpunkt Abstand. Damit kommt die AfD in dieser Altersgruppe nicht ganz so gut weg wie bei Älteren. Nach der Online-Befragung war von einem Rechtsruck in der sogenannten "Generation Z" die Rede gewesen.
Wie informieren sich Erstwähler über Politik und Nachrichten?
Viele aus der Altersgruppe der Erstwähler informieren sich über TikTok und andere Soziale Medien. Sie sind mit Abstand der wichtigste Kanal für junge Wähler, wenn es um Politik und Nachrichten geht: Fast zwei Drittel der für "Jugend in Deutschland 2024" befragten Menschen im Alter von 16 bis 21 Jahren informieren sich hier. Mit Abstand folgen danach: Fernsehsendungen, Suchmaschinen und Nachrichtenwebsites.
Wegen der Dominanz von Social Media in dieser Altersgruppe setzt die AfD schon lange auf TikTok. Dass junge Leute weniger über traditionelle Kommunikationskanäle erreicht werden könnten, hätten andere Parteien lange nicht verstanden, sagt Jugendforscher Hurrelmann: "Sie tun es jetzt - noch reicht es vielleicht, im Wahlkampf das eine oder andere wieder aufzuholen".
Was beschäftigt die Jungen?
Es gibt ganz verschiedene Themen, die die sogenannte Generation Z umtreibt. Auf die Frage "Welche der folgenden Themen bereiten dir Sorge?" antworteten in der Jugendtrendstudie 2024 fast zwei Drittel der befragten 16- bis 24-Jährigen: die Inflation (65 Prozent). Es folgen:
- "Teurer/knapper Wohnraum" (54 Prozent)
- "Krieg in Europa und Nahost" (50 Prozent)
- "Spaltung der Gesellschaft" (49 Prozent)
- "Klimawandel" (49 Prozent)
- "Altersarmut" (48 Prozent)
- "Wirtschaftskrise" (48 Prozent)
- "Zusammenbruch des Rentensystems" (44 Prozent)
- "Erstarken von rechtsextremen Parteien" (44 Prozent)
- "Zunahme von Flüchtlingsströmen" (41 Prozent)
Zurück zum Foto des Flüchtlingsboots, das Hannah in der Christophorusschule Königswinter in die Runde gehalten hat: Dabei geht es nicht nur um Europa und Freiheit. Es geht auch darum, wie die EU mit Flüchtlingen und Migranten umgeht.
Wie stehen Erstwähler zu Migration?
Migrationspolitik ist eines der Top-Themen der Europawahl - und die meisten Erstwähler haben dazu eine Meinung. Aber es ist keine einheitliche. So sagt etwa die Hälfte der für die aktuelle Jugendstudie befragten 16- bis 21-Jährigen, der Staat kümmere sich mehr um Flüchtlinge als um hilfsbedürftige Deutsche. Zur Aussage "Ich finde es gut, dass Deutschland viele Flüchtlinge aufnimmt" zeigt sich die Altersgruppe gespalten: Mehr als ein Drittel stimmt überhaupt nicht oder eher nicht zu. Ein weiteres Drittel antwortet mit "teils, teils". Der Anteil derer, die dem "voll und ganz" oder "eher" zustimmen ist etwas geringer.
Etwas Schlechtes über Ausländer zu sagen und als Rassist bezeichnet zu werden, scheint für die Altersgruppe eng beisammen zu liegen. Die Hälfte der Befragten stimmte "voll und ganz" oder "eher" der Aussage zu: "In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden".
Politik und Parteien können was bewegen
Etwa zwei Drittel der für die Jugendstudie befragten 16- bis 21-Jährigen sind der Meinung, dass Politik und Parteien zu den wichtigsten Akteuren zählen, wenn es darum geht, die großen sozialen und ökologischen Probleme in Deutschland zu lösen. Damit liegen sie mit deutlichem Vorsprung vor "Wirtschaft und Unternehmen" (46,6%)," Wissenschaft und Forschung" (36,8%), "Menschen wie du und ich" (30,4%), der "Europäischen Union" (29,6%) und Medien (28,2%).
4,8 Millionen Erstwähler in Deutschland
Übrigens: Europawahl ist alle fünf Jahre. Für die allermeisten Wähler zwischen 16 und 21 ist es deshalb das erste Mal, dass sie mitbestimmen dürfen, wer ins Europaparlament einzieht. Wahlberechtigt in NRW sind insgesamt etwa 13,8 Millionen Menschen, sagt das Landesinnenministerium NRW. 1,1 Millionen von ihnen sind Erstwähler - 300.000 davon unter 18 Jahre. In ganz Deutschland gibt es 64,9 Millionen Wahlberechtigte - davon 4,8 Millionen im Alter von 16 bis 21 Jahren.
Wie alt man bei der Wahl mindestens sein muss, entscheidet das nationale Wahlrecht der EU-Mitgliedsstaaten. In Deutschland ist die Stimmabgabe der Europawahl 2024 zum ersten Mal schon mit 16 Jahren möglich. Der Bundestag hat dafür das Wahlalter von 18 auf 16 Jahre abgesenkt.
Über dieses Thema berichten wir im WDR am 14.05.2024 auch im WDR 5 Morgenecho.
Unsere Quellen:
- Material von WDR-Autor Cengiz Ünal und Besuch der Christophorusschule Königswinter
- Daten zu 16- bis 21-Jährigen von Jugendforscher Simon Schnetzer - als Auszug aus der Jugendtrendstudie 2024
- WDR-Interview mit Anna Lang, Entwicklungspsychologin
- Daten von Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen
- Daten vom Statistische Landesamt Nordrhein-Westfalen (IT.NRW)
- FAQ zur Europawahl 2024 der Bundesregierung
- Material der Nachrichtenagentur DPA