Eine nackte Frau schreitet eine Treppe hinab. Je näher wir ihr kommen, desto verschwommener erscheint sie uns. Fast so, als würden wir sie an einem regnerischen Tag durch eine beschlagene Fensterscheibe anschauen. „Ema“ heißt das Bild, das Gerhard Richter 1966 schuf und das heute im Kölner Museum Ludwig zu bewundern ist. Modell stand ihm seine erste Ehefrau Marianne Eufinger, genannt Ema, die zu diesem Zeitpunkt schwanger war. Die noch feuchte Farbe verwischte der Künstler mit einem breiten, weichen Pinsel. „Ema“ gehört zu jenen Unschärfebildern, mit denen der Malerstar weltbekannt wurde.
Es ist ein irritierendes Bild, das mit unserer Wahrnehmung und unseren Sehgewohnheiten spielt. „Ich verwische meine Bilder“, hat Gerhard Richter gesagt, „um alles gleich zu machen - alles gleich wichtig und gleich unwichtig“. Es sind die wilden Sechziger, in denen „Ema“ entsteht. Pop-Art ist angesagt, Aktionskunst und Beuys. Dagegen setzte der damals 34-Jährige einen klassischen Akt in Öl. Er malte ihn aus Trotz gegen eine Ikone der Kunstgeschichte: gegen den „Akt die Treppe herabsteigend“, mit dem Marcel Duchamp 1912 die Malerei für beendet erklärt hatte. Ein halbes Jahrhundert später gab Gerhard Richter seine Antwort - mit Pinsel, Farbe und der gegenständlichen Darstellung einer Frau aus Fleisch und Blut, die wehmütig schöne Momentaufnahme einer Beziehung.
Gerhard Richter
Der Wahlkölner Gerhard Richter, 1932 in Dresden geboren und kurz vor dem Mauerbau 1961 in den Westen geflohen, gilt als einer der wichtigsten Maler der Gegenwart. Ein Chamäleon der Kunst hat man ihn genannt, weil er in den vergangenen 40 Jahren in immer neuen Anläufen die Möglichkeiten des Genres ausgelotet hat. „Ich verfolge keine Absichten, kein System, keine Richtung, ich habe kein Programm, keinen Stil, kein Anliegen“, meinte er selbst einmal. Er kommentierte Popart und Fotorealismus, variierte alte und neue Formen der Abstraktion, experimentierte mit Monochromie, Konzeptkunst und Farbfeldmalerei und trat zuletzt vor allem mit abstrakten Farblandschaften an die Öffentlichkeit.
Buchtipps
Gerhard Richter, 100 Bilder
Hrsg. von Hans-Ulrich Obrist
Hatje Cantz 2005
ISBN 3-7757-1686-6, Preis: 25 Euro
Jürgen Schreiber: Ein Maler aus Deutschland.
Gerhard Richter. Das Drama einer Familie
Pendo 2005
ISBN 3-86612-058-3, Preis: 22,50 Euro