Hier dürfen wir einen wahrhaft exklusiven Moment erleben. Zwei Engel ziehen einen schweren Vorhang aus Brokat beiseite und vergönnen uns den Blick in himmlische Gefilde: Im Paradiesgarten sitzt Maria auf einer Rasenbank, das Christuskind auf ihrem Schoß, umgeben von Engeln. Es ist eines der berühmtesten Bilder des Mittelalters, das bereits als Vorlage für eine Wohlfahrtsmarke diente. Geschaffen hat es Stefan Lochner. Um 1448 entstanden, markiert die "Muttergottes in der Rosenlaube" den Gipfelpunkt seiner Kunst, die damals noch ganz andere Zwecke verfolgte als heute. Als Schmuck in Kirchen, Kapellen oder weltlichen Räumen hatte sie einen theologischen Auftrag, sollte im Bild den Laien erklären, was auf Lateinisch in der Bibel geschrieben stand.
"Muttergottes in der Rosenlaube"
Die "Muttergottes in der Rosenlaube" hing vermutlich in einer Klosterzelle, vielleicht aber auch in einem Bürgerhaus. Ein Andachtsbild, gemacht, um sich im Gebet darin zu versenken und seine komplexe Symbolik aus nächster Nähe zu studieren. Die weißen Lilien stehen für die Reinheit Mariens, die rote Rose für Liebe und Tod - und für Christus. Der Apfel, den das Jesuskind in der Hand hält, zeichnet es als Nachfolger Adams aus, als Sohn Gottes, der hinweg nimmt die Sünden der Welt. Die Walderdbeeren, die dreiteiligen Blätter, selbst die Zahl der Perlen auf der Einhornbrosche und in der Krone der Gottesmutter, alles hat seine Bedeutung.
Doch nicht nur in kompositorischer, auch in maltechnischer Hinsicht ist das Bild auf Eichenholzgrund ein Meisterwerk. Stefan Lochner mischte aus Bleiweiß mit Farbpigmenten und Tempera ein einzigartiges Kolorit. Zermahlener Lapislazuli aus Afghanistan verleiht dem Blau des Mantels der Gottesmutter seine Intensität und feinen Nuancen. Der tüpfelnde Auftrag erzeugt die Illusion einer weichen Stoffoberfläche. Das echte Gold, das der Maler mit speziellen Werkzeugen punzierte, lässt die göttlichen Sphären leuchten.
Knapp 51 Zentimeter hoch und 40 Zentimeter breit ist der unermessliche Schatz, der scheinbar so klein an der Wand des Kölner Wallraf-Richartz-Museum hängt - und von uns entdeckt sein will.
Stefan Lochner
Stefan Lochner wurde um 1410 wahrscheinlich in Meersburg oder Konstanz am Bodensee geboren. Über seine Lehrzeit und künstlerische Herkunft wissen wir kaum etwas. Vermutlich hat sich Lochner zeitweilig in den Niederlanden aufgehalten, bevor er sich in Köln niederließ, wo er urkundlich seit 1442 nachweisbar ist. 1447 wurde er in das Bürgerbuch der Stadt eingetragen und war 1447 sowie 1450 Mitglied des Rates. Neben großen Altarwerken wie dem so genannten Weltgerichts- und Dreikönigsaltar schuf der wichtigste Vertreter der Kölner Schule eine Reihe von Marienbildern. Ganz bewusst hielt er sich an die traditionellen Formen des Andachtsbildes und verzichtete auf Landschafts- und Innenraumdarstellungen zugunsten der konsequenten Vergegenwärtigung sakraler Inhalte. Stefan Lochner starb 1451 in Köln.