Schon von Weitem leuchtet das weiße Tischtuch. Im Afblick gesehen, dominiert es das Esszimmer, bildet wie eine Leinwand den Untergrund für die gemalten Schalen und Teller, den Brotkorb und die Karaffe. Die beiden Frauen dagegen sind ganz an den Rand gedrängt. Schräg gegenüber an den Ecken des Tisches platziert, wirken sie merkwürdig weit voneinander entfernt.
Magier der Farbe
Auffällig ist das Spiel mit den Kontrasten. "Das eigentliche Sujet ist die Oberfläche, sie hat ihre Farbe, ihre Gesetze, jenseits der Objekte", notierte der französische Künstler Pierre Bonnard (1867-1947). "Das Esszimmer" entstand 1925. Während andere damals kubistisch oder surrealistisch malten, dachte Pierre Bonnard an die Opulenz der Farben. Lange hat man ihn deshalb als Nachfolger der Impressionisten verkannt, ihn auf seine lebensfrohe, sinnliche Malweise reduziert – und dabei ignoriert, wie sein Umgang mit der Farbe andere inspirierte, etwa Mark Rothko und seine Farbfeldmalerei.
Melancholische Tiefe
Und noch einen Aspekt hat man viele Jahre übersehen. 1925, als Bonnard "Das Esszimmer" malte, heiratete er seine langjährige Geliebte Marthe und beendete seine Affäre mit der jüngeren Renée Monchaty. Beide Frauen sind auf dem Bild zu sehen: Renée schaut den Betrachter an, Marthe deckt den Tisch. Kurz nach der Hochzeit nahm sich Renée das Leben. Und so erscheint hinter der Oberfläche ein Abgrund, wird trotz der Leichtigkeit der Darstellung eine melancholische Tiefe spürbar.
Autorin: Claudia Kuhland