Ihre magische Wirkung entfaltet sie erst mit Einbruch der Dunkelheit: die Fibonacci-Reihe in Unna. Von unten nach oben verlaufend, beleuchtet die aus Neonröhren geformte Zahlenfolge den fast 60 Meter hohen Schornstein einer ehemaligen Brauerei. Sie scheint geradewegs ins All, in Traumwelten, in die Unendlichkeit zu führen. Jede Ziffer ist ein Unikat, ein Pinselstrich des italienischen Künstlers Mario Merz, der stets auf der Suche nach der Nahtstelle von Natur und Intellekt als Ort der Kunst war. Der vielleicht bekannteste Vertreter der Arte Povera, jener auf einfachste Mittel reduzierten Objekt-Kunst, die sich Ende der 60er Jahre etablierte, schuf das weithin sichtbare Wahrzeichen eigens für das Zentrum für internationale Lichtkunst.
Zahlenmystik in Neon
Wer die Logik der Reihe nicht kennt, rätselt erst einmal. Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Jede Zahl ist die Summe der beiden vorangegangenen Zahlen. Also eins und eins gleich zwei, eins und zwei gleich drei, zwei und drei gleich fünf und so weiter… In munteren Sprüngen setzt sie sich fort - ein Sinnbild für die Gesetzmäßigkeiten des
Wachstums. Dynamisch, aber kontrolliert. Anfang des 13. Jahrhunderts hatte der Mathematiker Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci, die Formel zur Berechnung von Spiralen entdeckt. Mit ihrer Hilfe lässt sich der Bauplan der Natur entschlüsseln - vom Schneckenhaus bis hin zum kosmischen Spiralnebel. Doch der Lehrsatz liefert nicht nur Erklärungen für Naturphänomene. Er begründete den Goldenen Schnitt, kann in Klang verwandelt werden und inspirierte immer wieder Künstler.
Mario Merz setzte sich ab 1972 in seinem Werk mit dem in Zahlen gefassten Lebensrhythmus auseinander. Immer wieder stellte er die Fibonacci-Reihe dar, die zu einer Signatur seiner Kunst wurde und für ihn Ausdruck der denkenden Natur war. Denn "Denken", so hat er einmal gesagt, "ist Wachstum". Seine wunderbare Zahlenmystik in Neon auf einem Industriedenkmal bringt Vergangenheit und Zukunft, Technik und Natur in Einklang.
Mario Merz
Einen "Natur-Plastiker" und "mentalen Baumeister" hat man ihn genannt, den 1925 in Mailand geborenen Autodidakten Mario Merz. Sein Medizinstudium schloss er nicht ab. Stattdessen wandte er sich ab 1945 der Malerei zu. Mit Arbeiten aus Pflanzenblättern, deren Adern er so mit Farbe behandelte, dass sie wie Landkarten wirkten, machte der "italienische Beuys" Anfang der 50er Jahre auf sich aufmerksam. Später kreierte er schlichte Objekte aus Materialien wie Stroh, Reisig und Steinen. Berühmt wurde er vor allem durch seine Iglus. Als Inbegriff einer der Natur nahen nomadenhaften Existenz avancierte die Wohnstatt der Eskimos mit ihrer "idealen organischen Form" zu einem Hauptmotiv seiner Kunst. Mario Merz starb am 9. November 2003 in Turin.