Missbrauch im Sport

Sexuelle Gewalt: Nur wenige Betroffene schaffen es, zu sprechen

Stand: 08.10.2020, 13:59 Uhr

Seit anderthalb Jahren ruft die "Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs" Betroffene aus dem Sport auf, sich zu melden und ihre Geschichte zu erzählen. Am Dienstag (13.10.2020) will die Kommission in Berlin eine Tagung dazu abhalten. Erste Zahlen sind bereits bekannt: Nur 93 Betroffene haben sich gemeldet. Eine davon ist die Fußballerin Nadine.

Von Andrea Schültke

Das Mädchen ist talentiert. Spielt schon mit zehn in einem der wenigen Mädchenteams, die es damals gibt. Sie ist die Jüngste. Auch das nutzt ein Betreuer aus, verübt schwerste sexuelle Gewalt an dem Kind, über zwei Jahre lang. Das Mädchen kann sich nicht wehren, schweigt, auch weil ihr klargemacht wird, wenn sie redet, bricht der ganze Mädchenfußball an dem Ort zusammen.

Es könnten Tausende sein

Sie spielt weiter, Fußball ist eines der wenigen Dinge, die ihr Spaß und Glück bringen. Erst dreißig Jahre danach spricht sie zum ersten Mal mit uns, in einem Radiointerview. Vor einigen Monaten dann noch einmal.

Viel ist passiert, Menschen nehmen Anteil, wollen sie unterstützen, selbst der DFB meldet sich. Die Fußballerin ist kein Einzelfall. Auch die 93 Betroffenen, die sich bei der "Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs" gemeldet haben, sind keine Einzelfälle. Es müssen Tausende sein. Darauf weisen auch die Ergebnisse von Forschungsprojekten und Studien hin.

"Der Sport ist ein Bereich, der für Kinder und Jugendliche sehr wichtig ist. Viele Jungen und Mädchen sind Mitglied im Sportverein. 50 Prozent der Mädchen und 60 Prozent der Jungen sind Mitglied im Sportverein. Warum sollte dort keine sexuelle Gewalt passieren?", fragt die Soziologin Bettina Rulofs von der Universität Wuppertal.

Betroffeneninitiative sieht Wandel im Umgang mit sexueller Gewalt

27 Millionen Menschen in Deutschland sind in einem Sportverein organisiert. Sport sei Teil der Gesellschaft heißt es immer wieder. "Die Gesellschaft hat erst in den letzten Jahren angefangen zu lernen und zu begreifen, dass sexueller Kindesmissbrauch nicht nur ein persönliches Schicksal ist. Und das verändert sich Gott sei Dank", sagt Katsch. "Es verändert sich, weil Betroffene angefangen haben zu sprechen, aber auch, weil Gesellschaft gelernt hat, zuzuhören." Vor zehn Jahren war Matthias Katsch mit daran beteiligt, dass der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ans Licht kam.

Warum melden sich so wenige Opfer?

Im deutschen Sport ist der große Skandal bisher noch nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Dass es ihn gibt, daran besteht unter Expert*innen kein Zweifel. Betroffene sehen offensichtlich noch keine Möglichkeit darüber zu sprechen. Warum ist das so? Warum haben sich nur wenige Betroffene bei der Aufarbeitungskommission gemeldet?

Julia von Weiler von der Kinderschutzorganisation "Innocence in Danger" schließt daraus: "Dass nicht wirklich sehr viele Menschen im Sport von dieser Befragung oder dieser Möglichkeit erfahren haben". Das deckt sich mit dem Ergebnis unserer jahrelangen Recherchen und Gesprächen mit Betroffenen. Häufig fehlten Information, an wen sie sich wenden können.

Dass es Unterstützung bei Fachberatungsstellen oder Hilfetelefonen gibt, ist nicht breit genug bekannt. Dass es eine Aufarbeitungskommission gibt, noch viel weniger. 93 Betroffene hatten den Mut, sich zu melden, ihr Schweigen zu brechen. Stellvertretend für die vielen, die es noch nicht konnten.

Weitere Informationen:

Hilfetelefon sexueller Missbrauch

Fachberatungsstellen

Kontakt zur Autorin: andrea.schueltke@fm.wdr.de

Sexueller Missbrauch im Sport - Das große Tabu Sportschau 13.07.2019 43:58 Min. Verfügbar bis 13.07.2030 Das Erste Von Andrea Schültke