Wegen der Geste, ein Protest gegen die Rassendiskriminierung in den USA und Symbol der Bürgerrechtsbewegung "Black Power", wurden Carlos und sein Teamkollege, der Goldmedailliengewinner Tommie Smith damals vom Nationalen Olympischen Kommitee der USA ausgeschlossen. In einem bereits im Oktober 2016 geführten Interview mit Sport inside, erzählt Carlos, wie der Protest damals entstand, welche Konsequenzen er zu ertragen hatte und warum politischer Protest im Sport so selten ist.
Was hat Sie 1969 dazu bewogen, diese Form des Protests zu wählen?
John Carlos: Ich denke, weil ich in eine separierte Gesellschaft geboren wurde. In wuchs in einer Ära der weißen Flucht in New York auf, als die Weißen beschlossen aus Harlem wegzuziehen. Sich dann an der Eastern Texas University zu immatrikulieren und Rassismus aus erster Hand zu erleben, man war quasi eingewickelt darin. Dann aufgund meiner athletischen Fähigkeiten zu reisen und Dinge zu erleben, die ich nicht für möglich gehalten habe. Zu begreifen, dass Rassismus nicht nur in den USA existiert, sondern auf der ganzen Welt. Es gab die selbe soziale Ungerechtigkeit wie in meiner Nachbarschaft auf der ganzen Welt. Alles das hat mich zu dem gemacht, der ich bin. Das hat mich in einen Gemütszustand versetzt, dass ich auf die Welt gekommen bin, um diese Dinge, die Beziehung zwischen den Rassen, zu analysieren, zu prüfen und in eine Perspektive zu bringen, damit die Menschen sehen, dass sie mehr davon haben, wenn sie zusammenzuarbeiten anstatt gegeneinander.
Wann haben Sie die Entscheidung getroffen, die Siegerehrung dafür zu nutzen?
Carlos: Das war spirituell. Als ich sieben oder acht Jahre alt war, hat Gott mir eine Vision gegeben. Da war eine Form, ich weiß nicht, ob es ein Stadion war, aber da war eine Box und eine Menge Leute, die die ganze Zeit „Yippiyayeh“ gerufen und sich über irgendwas gefreut haben. Es hat eine Weile gedauert, bis ich realisiert habe, dass das meinetwegen ist, weil ich ganz alleine auf dem Rasen in dieser Box stand. Als mir klar war, dass es um mich geht, habe ich meine linke Hand gehoben. Das ist erstaunlich, denn ich bin Rechtshänder, ich mache alles mit rechts. Aber in dieser Vision hob ich die linke Hand, so hoch wie es ging. Und meine Hand sah genauso aus, wie später auf dem Podium. Meine Hand fror ein in der Zeit. Und was auch eingefroren ist in der Zeit, ist die Tatsache, dass all die Freude, die Liebe, die ich in diesem Moment erfuhr, mit einem Mal umschlug in Ärger. Die Leute waren wütend, haben mich beschimpft und mich zur Hölle gewünscht. Das war ein Schock. Ich habe danach nicht mehr an diese Vision gedacht. Ich bin nur rausgegangen und habe meinen Freunden gesagt: Ich werde reich und berühmt. Aber mehr Gedanken habe ich mir darüber nicht gemacht, bis ich nach Mexiko City kam. Auf dem Podium dort passierte genau das, was in der Vision passiert war. Ich wusste nicht, dass so etwas passieren würde, bis es tatsächlich passierte.
Also war es Ihre Idee?
Carlos: Hören Sie, ich will die Frage, wessen Idee das war, gar nicht erörtern, weil ich mich damit nicht brüsten will. Es war einfach etwas, was getan worden ist. Es war Gottes Idee. Gott hat ein Sandkorn mit dem Namen John Carlos aufgepickt und es auf den Tisch geworfen und gesagt: Du kannst etwas tun, um diese Welt besser zu machen oder dich zurücklehnen und nichts tun. Das ist deine Entscheidung. Dadurch, dass ich es getan habe, wurde ich ein Teil von etwas, dass den Unterschied ausmacht, die Leute aufstehen und ihren Geist benutzen, sie Leidenschaft und Emotionen entwickeln lässt, um etwas zu ändern. Wer die Idee dazu hatte, ist irrelevant.
Warum ist politischer und sozialer Protest im Sport so selten?
Carlos: Wegen der Repressalien, die man erfährt, wenn man eine Debatte beginnt über die Krankheiten der Gesellschaft. In meiner Zeit, als ich nach vorne getreten bin, gab es keine fünf Leute, die sich hinter dich gestellt und gesagt haben: Ich unterstütze, wer du bist und wofür du stehst. Heute ist die Unterstützung größer. Aber denken Sie daran: Es gibt Ignoranz und Angst. Das ist der Grund dafür, dass nur wenige Athleten in den letzten 50 Jahren hervorgetreten sind. Aber heute gibt es mehr Intelligenz. Warum es richtig ist, einen Standpunkt einzunehmen oder nicht. Weil deine Kinder dich anschauen und fragen: Dad, was hast du getan? Wie denkst du darüber? Man kann in dieser Frage nicht neutral sein. Eine Frau kann auch nicht ein bisschen schwanger sein. Entweder sie ist schwanger oder nicht. Es ist geradeaus: In die eine oder die andere Richtung.
Was hat sich in den 50 Jahren seit ihrem Protest in Mexiko City verändert?
Carlos: Im Wesentlichen ist alles beim Alten geblieben. Es gab ein paar kosmetische Korrekturen, damit alles besser aussieht. Es ist als würden Sie im Kino sitzen, auf einmal wird der Bildschirm schwarz und Popcorn schießt aus dem Boden. Und so schnell wie es gekommen ist, ist es auch wieder weg. Und Sie denken: Ich will Popcorn. Aber es war nur eine Andeutung. Was in der Gesellschaft passiert, ist das selbe Spiel. Es ist nur eine Andeutung. Sie denken, Sie können danach greifen. Aber war es echt oder ist es nur eine Erinnerung?
Wieviel Zeit wird es brauchen, um ihre Ziele zu erreichen?
Carlos: Ein Leben lang. Wir haben es mit der menschlichen Spezies zu tun. Gerechtigkeit in der Gesellschaft herzustellen, ist ein Prozess, der sich langsamer als Schneckentempo bewegt. Es ist ein Job für die Ewigkeit. Das heißt nicht, dass man das Leben nicht genießen kann. Man kann auch ein gutes Leben haben, aber der Fokus wird immer darauf liegen, eine bessere Situation für die Kinder zu schaffen.