Es sollte sein zweiter Einsatz im Irak werden. Doch mittlerweile hielt André Shepherd das Vorgehen der US-Armee im Irak für völkerrechtswidrig. Er wolle nicht in Kriegsverbrechen verwickelt werden - so argumentierte Shepherd in seinem Asylantrag, den er am 26. November 2008 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stellte. Das Bundesamt lehnte sein Asylgesuch im April 2011 ab. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass Shepherd, der als Mechaniker für die Wartung von Hubschraubern zuständig war, "bei einem erneuten Einsatz im Irak in Kriegsverbrechen oder andere Straftaten verwickelt werden könnte", so die Begründung. Shepherd klagte dagegen am Münchner Verwaltungsgericht.
Klärung der Asylfrage am Europäischen Gerichtshof
Dort aber wandte man sich an den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg und bat um Klärung einiger grundsätzlicher Fragen. Die dortige Generalanwältin kam zu dem Schluss, dass auch Militärangehörige, die nicht zur kämpfenden Truppe gehören, Asyl beanspruchen können, wenn sie eine Strafverfolgung wegen Verweigerung des Militärdienstes befürchten müssen. Das EuGH will am Donnerstag (26.02.2015) entscheiden, ob diese Auffassung richtig ist. "Sollte das EuGH der Auffassung zustimmen, wäre das ein wichtiger Präzedenzfall", sagt Bernd Mesovic von der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. Das Münchener Verwaltungsgericht werde sich in seiner Entscheidung über den Asylantrag von André Shepherd daran orientieren müssen. Es sei ermutigend, sagt Mesovic, dass "jemand, der Helikopter repariert, zwar nicht unmittelbar an Kampfhandlungen beteiligt ist, aber dennoch das Recht bekommt, den Kriegseinsatz nicht mit seinem Gewissen vereinbaren zu können". Er sei "extrem nervös" vor der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, sagt Shepherd. Zum Interview kam der 38-Jährige, der zurzeit als Berater bei einem Kabelnetzwerkunternehmen in Bayern arbeitet, eigens nach Köln.
aktuellestunde.de: Herr Shepherd, wie kam es zu Ihrer Entscheidung, von der Armee zu desertierten?
André Shepherd: Das war ein längerer Erkenntnisprozess. Dann kam der Tag, an dem uns General Sanchez während unseres Irakeinsatzes mitteilte, dass es entgegen der bisherigen Behauptungen der amerikanischen Regierung gar keine Massenvernichtungswaffen im Irak gebe. Die US-Regierung hatte uns also belogen. Das hat mich extrem schockiert, zumal es drei Wochen nach den Kämpfen in Falludscha war, bei dem die Stadt größtenteils zerstört wurde. Der General sagte, wir würden trotzdem noch im Irak bleiben - um die bevorstehenden Wahlen zu sichern, um gegen Al Quaida zu kämpfen, außerdem sollte unsere permanente Präsenz für die Sicherheit des irakischen Volks sorgen. Für mich stellt es sich jetzt so dar, dass es in Wirklichkeit darum ging, den amerikanischen Ölfirmen Verträge im Irak zu sichern.
aktuellestunde.de: Wie ging es dann für Sie weiter?
Shepherd: Für mich stand plötzlich mein gesamtes Weltbild auf dem Kopf. Als Kind hatte ich immer gelernt, dass die USA für das Gute stehen, dass die Bösen bestraft würden. Plötzlich fühlte es sich für mich so an, als ob die "bad guys" in Wirklichkeit die amerikanische Regierung sind. Ich begann, intensiv zu recherchieren, vom Afghanistankrieg bis hin zu 9/11: Warum machten die USA ganze Nationen zu Schuldigen, anstatt einzelne Täter zu identifizieren? Zurück in Deutschland suchte ich nach Informationen auf ausländischen Internetseiten. Zuerst wollte ich das alles kaum glauben, was ich dort las. Weil es mein Kindheitsbild von meinem Land Stück für Stück demontierte.
Anfangs suchte ich noch Beweise dafür, dass die USA doch nicht so schlimm sind, wie es die ausländischen Medien darstellten. Aber leider musste ich feststellen, dass es solche Beweise nicht gab. Und das ist bis heute schwer zu begreifen für mich, denn ich liebe mein Land wie verrückt. Wir Amerikaner machen den Fehler, dass wir die Regierung machen lassen, ohne großartig zu protestieren. Auch ich war, bevor ich zur Armee ging, nicht sehr politisch. Ich wollte Computerprogrammierer werden, und das war's. Mittlerweile glaube ich, dass wir heute nicht an dem Punkt stünden, an dem wir stehen, wenn das amerikanische Volk nicht so unkritisch wäre.
aktuellestunde.de: Was hat Sie dann dazu gebracht, in Deutschland Asyl zu beantragen?
Shepherd: Das war mehr oder weniger Schicksal. Nach europäischem Recht muss man in dem europäischen Land Asyl beantragen, das man als erstes betritt. Das war in meinem Fall Deutschland. Aber es ist nicht die schlechteste Wahl, denn ich liebe dieses Land, ich habe unzählige Freunde hier, ich genieße die Kultur und auch die zentrale Lage in Europa, inmitten so vieler verschiedener Länder. Ich finde die deutsche Sprache faszinierend – auch wenn sie verdammt kompliziert ist. Deutschland ist sozusagen meine zweite Heimat geworden.
aktuellestunde.de: Hätten Sie in den USA keine Möglichkeit gehabt, Ihren Militärdienst offiziell aufzukündigen?
Shepherd: Das ist sehr schwierig. Selbst wenn man nur für einen kurzen Zeitraum unterschrieben hat, gilt man noch viele Jahre als Reservist, der jederzeit zu Einsätzen gezogen werden kann. Früher konnte man angeben, dass man schwul oder drogenabhängig sei, um entlassen zu werden. Beides bin ich nicht. Religiösität als Grund fiel auch aus: Nachdem ich gerade festgestellt hatte, wie wir von der Politik belogen worden waren, hatte ich angefangen, die beiden anderen Themen, die die meisten Menschen beschäftigen, kritisch zu betrachten: Geld und Religion. Auch zum Thema Religion fand ich heraus, dass zwischen dem, was geschrieben wurde – egal, ob in der Bibel, dem Koran oder der Thora – und dem, was man den Menschen erzählt, Welten liegen. Ich bekam große Zweifel und konnte also nicht damit argumentieren. Als totaler Pazifist hätte ich mich auch nicht darstellen können, da ich denke, dass es Situationen gibt, in denen man sich notgedrungen verteidigen muss. Außerdem spiele ich, wie alle Soldaten, gerne Ballerspiele, jeder wusste das.
aktuellestunde.de: Wie genau sind Sie dann desertiert?
Shepherd: Nachdem ich von meinem ersten Irak-Einsatz zurück in die Kaserne in Kattenberg gekommen war, hieß es, dass die Apache-Hubschrauber, für die ich zuständig war, vorerst nicht mehr im Irak eingesetzt würden. Ich sollte bis 2011 als Sekretär für den Kommandeur am Schreibtisch in Kattenberg sitzen. Ich war erleichtert. Im April 2007 hieß es plötzlich, im Juli müsste ich wieder in den Irak gehen. Ich sagte, ich bräuchte 30 Tage frei, um darüber nachzudenken. Ich fuhr zu meinen Freunden im Chiemgau, um mich mit ihnen zu beraten. Ginge ich wieder in den Irak, würde ich dieses Mal höchstwahrscheinlich mehr als meinen unschuldigen Mechanikerjob tun. Würde ich desertieren, hätte ich die Vereinigten Staaten als Feind. Deserteure erwarten in den USA harte Strafen. Ich überlegte: Sollte ich irgendwann Kinder haben – wie werde ich ihnen erklären, dass ich freiwillig in den Krieg ging? Wenn ich desertiere – wo werde ich leben? In Amerika würde ich nie mehr einen Job kriegen. Nach zehn Tagen war die Entscheidung gefallen: Ich werde mich der Situation stellen und dafür ein reines Gewissen haben, anstatt für den Rest meines Lebens möglicherweise mit der Schuld zu leben. Am 11. April 2007 teilte ich meinen Freunden meine Entscheidung mit. Sie sahen mich an und sagten, ich sei verrückt, die amerikanische Regierung würde mich überall finden. Ich sagte ja, ich weiß, aber ich kann es nicht ändern. Dann sagten sie ok, egal was passiert, wie werden Dir zur Seite stehen. Das war das großartigste, was ich je gehört habe. Wir fuhren zur Kaserne und holten meine Sachen.
aktuellestunde.de: Das war Mitte 2007. Erst im November 2008 beantragten Sie Asyl. Wo haben Sie in den 19 Monaten dazwischen gelebt?
Shepherd: Ein Freund in Bayern hat ein großes Bauernhaus, das vollkommen allein steht. Dort hatte ich Zeit, darüber nachzudenken, wie ich legal nach Deutschland immigrieren könnte. Dazu war dann sehr viel Bürokratie zu bewältigen.
aktuellestunde.de: Sollten die Entscheidungen des EuGH dazu führen, dass Ihr Asylantrag anerkannt wird: Glauben Sie, dass viele andere US-Soldaten Ihrem Beispiel folgen werden?
Shepherd: Schwer zu sagen. Anders als damals während des Vietnamkriegs sind heute viele Soldaten verheiratet, haben Familie. Wer gegen das Militär rebelliert, riskiert also nicht nur seine eigene Situation, sondern auch die seiner Familie und vor allem deren finanzielle Unterstützung durch die Army. Ich kann gut verstehen, dass viele da zögern würden. Wer in einem anderen Land Asyl beantragt, muss sein Leben von Null auf neu aufbauen: Neues Umfeld, neue Sprache, Schwierigkeiten, einen Job zu finden. Ich glaube nicht, dass es eine Masseneinwanderung geben wird.
aktuellestunde.de: Was werden Sie tun, wenn Ihr Asylantrag am Ende nicht erfolgreich sein sollte?
Shepherd: Wenn man mich in die USA zurück schicken würde - schwierig! Als Deserteur ist man in den USA fürs Leben gebrandmarkt. Das Militär genießt ein derartig hohes Ansehen bei der Bevölkerung, dass Deserteure in den Augen der meisten einfach nur Verräter sind, denen keine Rechte mehr zustehen. In vielen Staaten dürfen Deserteure nicht mehr wählen, bekommen keinen Kredit mehr, keinen vernünftigen Job, das Leben ist im Prinzip gelaufen. Die USA müssten außerdem viel Geld ausgeben für meine Verurteilung, meinen Gefängnisaufenthalt, meine soziale Versorgung danach.
Ich hoffe, dass ich eines Tages offiziell hier in Deutschland leben kann. Ich bin extrem nervös, obwohl ich weiß, dass ich das Richtige getan habe. Aber ich weiß, was politischer Druck ausmachen kann. Und ich sage seit Jahren, dass ich mich bei der deutschen Regierung dafür entschuldige, dass ich sie in diese schwierige Situation bringe. Aber ich hoffe, dass die Richter sagen, wir müssen Menschen beschützen, die ein Bewusstsein dafür haben, was richtig und was falsch ist, und dass sie ein Recht haben müssen, solche Entscheidung zu treffen.
Das Interview führte Nina Magoley.