Die zehnjährige Tülin liegt verletzt am Hagener Hauptbahnhof, als die Rettungskräfte große weiße Tücher aufspannen müssen. Schaulustige bedrängen das Mädchen, die gerade von einem Auto angefahren und verletzt wurde. Und selbst über die Tücher halten die Gaffer Smartphones, filmen und fotografieren die Szene. "Die haben gelacht und Videos gemacht - und das dürfen sie nicht", erinnert sich Tülin am Montag (25.04.2016).
Ihr Cousin, der sie an dem Tag begleitet hat, ist derjenige, der einen Krankenwagen ruft. Von den filmenden Gaffern greift niemand ein. "Das Mädchen hatte das Gefühl, die Umstehenden würden sich über sie lustig machen. So hat sie es empfunden", sagt Ulrich Hanki von der Hagener Polizei.
Als dann noch ein Rettungshubschrauber gerufen wird, blockieren viele Schaulustige den Rettungskräften endgültig den Weg. "Dass Menschen hinschauen, wenn Autos ineinandergekeilt sind oder ein Hubschrauber mitten in Innenstadt landet, ist verständlich. Wenn sie aber die Rettungskräfte bei der Ersten Hilfe behindern, ist das der Gipfel der Unverschämtheit", erklärt Hanki. "Wie würden sich die Menschen wohl fühlen, würde ich sie filmen und auslachen, wenn sie verletzt am Boden liegen", fragt sich Tülin.
Ereignisse verfolgen Opfer ein Leben lang
Die Betroffenen erinnern sich oft ein Leben lang an diese Extremsituation. Lydia Steinführer zum Beispiel hatte als Kind mit ihrer Mutter selbst einen Unfall, wie sie der Hagener Polizei auf Facebook schreibt. "Das einzige, an das ich mich immer noch erinnere, sind die ganzen Leute die ringsherum standen. Niemand hat es auch nur in Erwägung gezogen den Notarzt zu rufen! Keiner... Traurig so etwas. Das vergisst man nicht...", schreibt Steinführer.
In einem Facebook-Post hatte sich die Hagener Polizei die Gaffer vom Hauptbahnhof vorgenommen. "Ihr solltet Euch was schämen, dass mehrere hundert von Euch mit dem Smartphone in der Hand die Rettungsarbeiten massiv behindert haben. Euch ging es nur darum, das verletzte Kind und die Landung des Hubschraubers zu filmen. ... Polizisten in der Absperrung habt ihr gefragt, ob sie mal an die Seite gehen können, damit ihr besser filmen könnt. Unfassbar!", schrieb die Polizei.
Wie können sich Unfallopfer und Rettungskräfte vor Ort wehren?
Hubschrauber locken besonders viele Gaffer an, wie Rettungssanitäter in einschlägigen Foren berichten. Rettungskräfte im niedersächsischen Molbergen bei Cloppenburg hörten zum Beispiel während eines Einsatzes mit Hubschrauber von Gaffern Sätze wie "Ich will meiner Enkelin das nur mal zeigen!" oder "Ich möchte nur ein Foto von dem Hubschrauber machen. Mein Mann würde sich darüber freuen!" Manche Menschen gaffen auch gar nicht, sondern blockieren mit ihren Autos den Weg: "Ich fahre hier immer durch; ich muss hier jetzt durch!"
Rettungssanitäter raten dazu, Gaffer aktiv einzubinden und sie zur Mithilfe aufzufordern. Auch direkte Fragen wie "Kann ich Ihnen helfen?", bewegen die meisten Gaffer dazu, weiterzugehen. Hilfreich kann es auch sein, den Gaffern klarzumachen, wie unangenehm die Situation für die Opfer sei.
Verschärfte Gesetze helfen Opfern
Immerhin können sich die Opfer und auch die Rettungskräfte besser vor Gaffern schützen - vor allem wenn sie an Unfallstellen fotografiert oder gefilmt wurden. Beides ist seit Anfang 2015 eine Straftat, seit der entsprechende Paragraf im Strafgesetzbuch neu gefasst (§ 201a StGB) wurde. Wer mit Fotos und Videos beispielsweise "die Hilflosigkeit einer anderen Person zur Schau stellt", dem drohen bis zu zwei Jahre Gefängnis oder eine Geldstrafe. Das Strafmaß gilt auch für alle, die diese Bilder verbreiten oder weitergeben. Vorher war dafür ein Jahr vorgesehen. Neu in dem Paragrafen ist auch die Regelung, dass "Bildträger sowie Bildaufnahmegeräte oder andere technische Mittel, die der Täter oder Teilnehmer verwendet hat", eingezogen werden können.
Erst in der vergangenen Woche hat die niedersächsische Landesregierung eine Bundesratsinitiative gegen Gaffer beschlossen, die nochmals über den bestehenen Paragraphen hinaus geht. Bisher erfasst der erst 2015 neu gefasste Paragraf im Strafgesetzbuch nicht Aufnahmen von Toten, so dass Fotografieren oder Filmen Verstorbener am Unfallort nicht unterbunden werden kann. Außerdem wird die Behinderung von Rettungsarbeiten ohne Anwendung von Gewalt und ohne tätlichen Angriff derzeit nicht bestraft. Diese Lücken gelte es zu schließen, teilten der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius und Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz mit.