Die Posaunenchöre und Kirchen-Pop-Gruppen, denen man sonst in den Messehallen kaum entkommt, passen anscheinend nicht zu Thema: Vor der Diskussion um Hartz IV und in den Pausen spielt das multikulturelle "Menschen-Symphonieorchester" eine art kölsche World-Music. Der Ort passt allerdings auch nicht: Der sogenannte Kristallsaal mit riesigen Leuchtern, Teppichboden und gepolsterten Stühlen statt der allgegenwärtigen Papphocker. Die Menschen, die hier bequem Platz nehmen, wissen jedoch sehr gut, was Armut in Deutschland heißt. Die Diskussion zeigt schnell, dass lauter Betroffene anwesend sind, und solche, die beruflich mit ihnen zu tun haben.
Beim Mindestlohn sind sich alle einig
Wenn der evangelische Kirchentag auch in den Augen des Kölner Kardinals Meisner "Leipziger Allerlei" bietet: Hier wird eher Schwarzbrot gereicht. Christine Bergmann (SPD), früher Familienministerin, dann Ombudsfrau für die Hartz-Gesetze, erläutert in einem Vortrag Vorzüge und Probleme der Sozialreformen. Gelacht wird da nur ein Mal: Als sie vom Problem der Langzeitarbeitslosigkeit "in Gelsenkirchen und dem gesamten Osten" spricht. Ansonsten gibt es viele Zahlen und eine Forderung, die sich wie ein roter Faden durch das Forum zieht: "Wir brauchen einen Mindestlohn, denn Hartz IV unterstützt mittlerweile massenhaft Menschen, die voll arbeiten und trotzdem unter der Armutsgrenze bleiben."
Ein Bibelzitat sorgt für Unmut
Franz Müntefering (SPD) stimmt dem ebenso vehement zu wie Nikolaus Schneider, Präses der rheinischen Landeskirche. Ansonsten muss sich der Vizekanzler und Sozialminister einiges anhören, wenn das Publikum das Wort hat. Sie hätte ihn aus der SPD geworfen, wenn sie nur gekonnt hätte, sagt eine Frau, weil er einmal die Bibel zitiert habe: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Eine Sozialarbeiterin berichtet von krebskranken Patienten, die nur noch den niedrigsten Sozialsatz bekommen und deshalb vor der Chemotherapie um einen neuen Schlafanzug betteln. "Wissen Sie eigentlich, was bei den Leuten los ist?" Und auch Präses Schneider wird angegriffen: Eine Gewerkschafterin berichtet, er habe auf die Bitte, sich der Kampagne für den Mindestlohn anzuschließen, nicht einmal geantwortet.
"Schreiben Sie mir!"
Die Kirche sei eben auch eine Behörde, entschuldigt sich Schneider auf dem Podium. Er persönlich trete offen für einen Mindestlohn ein, aber die Kirche als Ganzes könne sich nicht einzelnen politischen Kampagnen anschließen. Im übrigen bestätigt er die Richtigkeit des Bibelzitats vom Arbeiten und Essen. "Aber damit meinte ich nur Leute, die zumutbare Arbeit ablehnen", sagt Müntefering. Und auch die wolle er natürlich nicht verhungern lassen. Und wie es den Menschen in Armut gehe, wisse er wohl recht gut. Und was die vorgetragenen Einzelfälle angeht? "Schreiben Sie mir", sagt der Minister.
Dann folgt etwas Musik und noch ein Vortrag und wieder eine Diskussion. Drei Stunden geht es um die düstere Seite Deutschlands. Ein großes Lösungskonzept präsentiert niemand. Im Saal nebenan atmen gerade hunderte Besucher gleichzeitig ein und versuchen ihre innere Mitte zu spüren. Und etwas weiter hört man auch wieder die ersten Posaunen.