Fast tausend interessierte und neugierige Kirchentagsbesucher haben an diesem Samstagabend vor dem Gittertor der Kartäuserkirche in der Kölner Südstadt ausgeharrt und stoisch einem Gewitter getrotzt. Am Ende ist nur Platz für 400 Leute. Wer es geschafft hat, betritt barfuß einen weißgetünchten Kirchenraum. Über dem Eingang steht: "Herzlich willkommen im Weinberg der Liebe." Der Gang zwischen den Bänken ist mit rotem Samt ausgelegt, von der Empore rieseln Wein- und Rosenblätter auf die Gemeinde herab. Ein Mann tritt ans Mikrofon: "Dies ist ein erotischer Gottesdienst. Können Sie ein klein wenig zusammenrücken?". Unsicheres Kichern. Erste Tanzdarbietung: Begleitet von Trommelschlägen schlängelt sich die Tänzerin im hautfarbenen Body über den Boden. Eine gotteslästerliche Provokation? "Gut, dass uns Kardinal Meisner nicht sieht", flüstert jemand.
Aufruf zur körperlichen Liebe
Der Pfarrer tritt auf: schwarzer Talar, nackte Füße. Biblische Lesung ist das Hohelied Salomo, das einzige erotische Buch in der Heiligen Schrift. "Erotik und Lust sind keine von Gott abgetrennten Sperrgebiete. Lust will ausgelebt werden", predigt Armin Beuscher, um allerdings sofort einzuschränken: "Dazu sind wir heute im Gottesdienst natürlich nur bedingt in der Lage." Er erzählt von seinem Hausarzt, der ihn einmal mit der Frage überraschte: "Beten Sie regelmäßig mit Ihrer Frau und haben Sie regelmäßig Verkehr?" Verlegen habe er daraufhin etwas von den Pflichten eines christlichen Ehemanns gemurmelt, doch später sei ihm die tiefere Bedeutung der Frage bewusst geworden: "Beides - Spiritualität und Erotik - lebt von der Übung." Auch Gottes Zärtlichkeit könne mit allen Sinnen gespürt werden. "Es gibt keinen Sex, wenn Gott schon schläft." Beuschers Fazit: "Vielleicht sollten wir Pfarrer öfter mit unserer Liebsten ins Bett gehen. Amen."
Umarmungen, Küsse und ein Salbungsritual
Nun sind die Gläubigen gefragt: Sie sollen sich an einem Salbungsritual beteiligen, dem Sitznachbarn Stirn und Hände massieren. Manch einer ist mit einem Mal sehr in sein Liedblatt vertieft. Aber einige trauen sich, und zwei, drei jüngere Paare wagen sogar eine Umarmung und ein paar Küsse. Die Stimmung lockert sich. "So müssten alle Gottesdienste sein", seufzt die 59-jährige Birgit Krüger aus der Nähe von Hamburg, und die Bayerin Gertrud Schirmer, 72 Jahre alt, meint: "Die Salbung fand ich am schönsten." Dann sprechen alle noch das Vaterunser, und Pfarrer Beuscher ermahnt die Gemeinde mit den Worten: "Lobt Gott mit euren Körpern, mit eurer Lust und Zärtlichkeit." An der Stärke des Beifalls gemessen, ist man voll guter Vorsätze.