Interview zur Gründung von Nordrhein-Westfalen

Ein Land wird getraut

Stand: 18.05.2006, 16:09 Uhr

"Operation Marriage" nannten die Briten 1946 die Gründung Nordrhein-Westfalens: Bei der Hochzeit von Rheinländern und Westfalen ging es um große Politik. Die Franzosen beruhigen, die Westfalen einbinden, die Sowjets fernhalten.

Die Engländer dachten weit voraus, als sie ein großes westdeutsches Land schufen. Es ging um eine Vernunftehe: Rheinländer und Westfalen sollten sich nicht lieben, sondern Kohle liefern und Demokratie üben. Mit Christoph Nonn, Professor für Landesgeschichte in Düsseldorf, sprach WDR.de über die ersten Stunden von NRW.

WDR.de: Beim Besuch der britischen Queen 2004 in Düsseldorf wurde es immer wieder betont: Die Engländer haben unser Land geschaffen. Warum hatten sie die Idee zur "Operation Marriage" von Rheinländern und Westfalen?

"Proporz-Kabinett": Landesregierung 1947 | Bildquelle: dpa

Nonn: Die Gründung von NRW war im Grunde ein Nebenprodukt des schon beginnenden Kalten Krieges. Die Briten rechneten damit, dass sich die amerikanischen Truppen wie nach dem Ersten Weltkrieg bald aus Europa zurückziehen würden. Deshalb fürchteten sie die Russen und brauchten die Franzosen. Die wollten Deutschland zunächst gern aufteilen. Das Rheinland und das Ruhrgebiet von Deutschland abtrennen, wie es nach dem Ersten Weltkrieg geschah. Die Engländer waren dagegen. Ihre Lehre aus der Geschichte hieß: Keinen Hass und Nationalismus schüren. Die "Operation Marriage" war also ein Kompromiss: Das neue Land war ein so großes Territorium, dass man es theoretisch - im Sinne der Franzosen - immer noch als eigenen Staat etablieren konnte. Die Bundesrepublik gab es ja noch nicht. Es konnte aber auch - im Plan der Engländer - in einem künftigen Bundesstaat die Zentralgewalt schwach halten. Hier lebte ja fast ein Viertel der deutschen Bevölkerung.

WDR.de: Das Ruhrgebiet spielte bei diesem Interessenausgleich die entscheidende Rolle?

Nonn: NRW ist um das Ruhrgebiet herum gebildet worden. Das Ruhrgebiet war gewissermaßen die Perle und das Land darum herum das Schmuckkästchen. Als Waffenschmiede des Deutschen Reiches wollten Franzosen und Russen das Industriegebiet zunächst zerstören. Sie hatten am meisten unter der deutschen Aggression zu leiden und wollten diese Gefahr für die Zukunft ausschließen. Außerdem wollte man sich bei der Kohle bedienen. Die Briten ließen auch einiges demontieren, sahen aber die künftige Gefahr mehr in der Sowjetunion, gegen die man auch Deutschland einbinden wollte. Dafür musste man die Demokratie aufbauen, nicht die Industrie zerschlagen.

WDR.de: "Es ist schrecklich, aber es geht", sagt der Kabarettist Jürgen Becker über das Zusammenleben von Rheinländern und Westfalen. Gab es 1946 tatsächlich regionalen Widerstand gegen diese Ehe?

Demontage in Oberhausen (1949) | Bildquelle: dpa

Nonn: Den gab es vor allem in Westfalen. Zu dieser Zeit kam ja der Hunger, den die Deutschen zuvor im Krieg in Europa verbreitet hatten, nach Deutschland zurück. Den landwirtschaftlich geprägten Regionen ging es aber vergleichsweise gut. Das galt auch für Westfalen, einmal abgesehen vom östlichen Ruhrgebiet und wenigen städtischen Inseln wie etwa Bielefeld. Von daher fürchtete die ländliche Bevölkerung, dass sie die hungernden Städter an Rhein und Ruhr durchfüttern müsste. Bezeichnenderweise war man im Ruhrgebiet für den Zusammenschluss.

Außerdem gab es Widerspruch durch die westfälischen Verwaltungseliten. Das hatte wenig mit westfälischer Dickschädeligkeit zu tun, sondern mit Angst vor dem Verlust an Einfluss. Man fürchtete, vom bevölkerungsreicheren Rheinland untergebuttert zu werden. Die Briten waren geschickt genug, mit Amelunxen, dem Münsteraner Regierungspräsidenten, einen dieser Skeptiker an die Spitze der ersten Landesregierung zu berufen. Außerdem schützte die Vereinigung vor der in Hannover teilweise erwogenen Angliederung Westfalens an Niedersachsen. Westfälische Politiker hatten zuvor schon warnend von einem "Niedersächsischen Imperialismus" gesprochen. Mit den für Kabarettisten interessanten Mentalitätsunterschieden hatte all das wenig zu tun, viel mehr mit handfesten wirtschaftlichen und politischen Interessen.

WDR.de: Hat es auch später keine Versuche gegeben, das von den Alliierten gestiftete neue Gebilde wieder auseinander zu nehmen oder zu verändern?

Nonn: Die Westfalen hatten schließlich ganz gut abgeschnitten: Sie stellten am Anfang den größeren Teil der Minister. Gerade die zunächst regierende CDU machte eine Politik des Proporz: Stets wurde auf gleiche Postenzahl für Rheinländer und Westfalen, Katholiken und Protestanten geachtet, auch wenn das gar nicht den Mehrheitsverhältnissen in der Bevölkerung entsprach. Die Rheinländer wollten zeitweise, so unter Ministerpräsident Meyers (um 1960), das südliche Rheinland wieder "heimholen". Aber dazu hätte man ja Rheinland-Pfalz auflösen müssen. Bei den späteren Versuchen einer Länderreform ging es immer um größere Einheiten, um Fusionen, die sich bislang - wie bei Berlin und Brandenburg - nie durchsetzen konnten. Weil man eher größere Einheiten anstrebt, stand es nie mehr zur Debatte, NRW wieder auseinander zu reißen.

WDR.de: Nach Fluss und Pferd für Rheinland und Westfalen kam die lippesche Rose erst verspätet 1947 in das Landeswappen. Warum?

Nonn: Lippe stand auf der Kippe. Es musste sich zwischen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen entscheiden. Die übrigen Bundesländer wurden ja auch erst um diese Zeit neu geformt. Die Lipper haben verhandelt und haben schließlich NRW den Zuschlag gegeben, weil sie hier am meisten geboten bekamen. Es ging z.B. um die Einnahmen aus dem Kurbetrieb, die eine Stiftung verwalten durfte - und ähnliche Sonderrechte. Die Lipper haben sich von NRW einkaufen lassen. Es ging nicht um Symphatie, sondern um Geld.

Das Interview führte Gregor Taxacher.