"Vielleicht kann 'S.M.A.S.H.' sogar noch später stattfinden", äußerte Schlingensief in einem Brief an seine Mitarbeiter Anfang Juli 2010 die leise Hoffnung, dass das Projekt, das er für die diesjährige Ruhrtriennale geplant hatte, doch noch verwirklicht werden könne. Das Stück hätte laut Homepage des koproduzierenden Deutschen Theaters in Berlin die Entwicklung des von Schlingensief initiierten Operndorfs in Burkina Faso weitergesponnen: Das Projekt löst eine regelrechte Kettenreaktion an Hilfsaktionen aus, alle wollen plötzlich in Afrika investieren. Was dann passiert, deutet der Untertitel des Stückes an: "In Hilfe ersticken".
Ein letzter Brief an die Mitarbeiter
Schlingensiefs Hoffnung sollte sich nicht erfüllen: Am Samstag (21.08.2010) starb er in Berlin an den Folgen seiner Lungenkrebserkrankung. NRW-Kulturministerin Ute Schäfer (SPD) sprach von einem "großen Verlust für die Gesellschaft und die Kultur". Sie sagte: "Wir sind dankbar für seine künstlerische Leistung, für seine Radikalität, mit der er Werte in Gesellschaft, Kultur und Politik hinterfragt hat, für seine Art von Provokation durch Kunst, die aufrüttelte, berührte, betroffen machte und wegweisende Spuren hinterließ. Sie werden bleiben."
Der Brief, den er sieben Wochen vor seinem Tod an seine Mitarbeiter verfasste, hat die Leitung der Ruhrtriennale auf der Homepage des Festivals in Auszügen veröffentlicht. Darin heißt es: "Es gibt leider ein paar harte Neuigkeiten, denen sofort nachgegangen werden muss! Meine Ängste während unserer letzten Produktion 'Via Intoleranza II' haben sich leider bestätigt, und schon diese Arbeit war ein harter Kampf, den ich nur mit Eurer Hilfe bewältigen konnte."
Vergleiche mit Beuys
Schlingensiefs Arbeitsstil wurde oft mit dem eines anderen wichtigen nordrhein-westfälischen Kulturschaffenden verglichen: Joseph Beuys (1921-1986). Kompromisslos und verstörend suchte Schlingensief nach neuen Ausdrucksformen und Kreativansätzen, was an Beuys' "erweiterten Kunstbegriff" erinnerte. Ähnlich wie das Düsseldorfer Enfant Terrible polarisierte auch Schlingensief immens, wurde geliebt und gehasst. Beuys zählte zu seinen erklärten Vorbildern.
Seine Zeit in Oberhausen: Ministrant und Jungfilmer
Begonnen hatte alles im Haus seiner Eltern, eines Apothekers und einer Kinderkrankenschwester, in Oberhausen: Im Keller veranstaltete Schlingensief sogenannte Kulturabende, in deren Rahmen damals unbekannte Künstler wie Helge Schneider und Theo Jörgensmann auftraten. Außerdem gründete er das Jugendfilmteam Oberhausen und realisierte mehrere Dokumentarfilme. Geprägt war diese Zeit auch von seinem Einsatz in der Katholischen Jugend als Ministrant. Seine Kirchensteuer zahle er noch heute, sagte Schlingensief in einem Interview mit WDR-Moderatorin Susanne Wieseler im Jahr 2009. Damals dachte er, der Krebs sei besiegt.
Widerspruchsgeist, der die Gesellschaft spaltete
So gespalten die Öffentlichkeit auf ihn reagierte, so widersprüchlich war er selbst: Schlingensief drehte Trash-Filme, moderierte Talk-Shows, gründete Protestparteien, inszenierte anderseits aber auch am Wiener Burgtheater, der Berliner Volksbühne und ab 2004 dann in Bayreuth bei den Wagner-Festspielen. Er war Bestseller-Autor, zwei Jahre lang Aufnahmeleiter bei der "Lindenstraße" (1985-1987), wirkte bei der Berlinale 2009 als Jury-Mitglied, trat als bildender Künstler in Erscheinung und wurde noch im Mai 2010 dazu berufen, den deutschen Pavillon für die Biennale von Venedig zu gestalten. Selbst damit rief er den Zorn etablierter Kunstschaffender auf den Plan: Der in Köln ansässige Maler Gerhard Richter erzürnte sich darüber, dass man einen "Performer" nehme, wo Deutschland doch "Tausende Künstler" habe.