Klar, Berlin ist ein besonderer Fall. Das weiß auch Michele Marsching, Landeschef der NRW-Piraten. "Unser Erfolg beruht teilweise auf Hype und auch Protest", sagt er gegenüber WDR.de. "Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen, dass wir 21.000 Nichtwähler aktiviert haben, wieder an die Urne zu gehen. Wir müssen also auch irgendwo überzeugt haben." Marsching führt das hervorragende Berliner Ergebnis seiner Partei auf den Wunsch der Menschen nach einem neuen Politikstil zurück. "Wir haben einen intensiven Straßenwahlkampf betrieben, sind dorthin gegangen, wo's weh tut. Dort haben wir gemerkt, die Menschen sind gar nicht politikverdrossen, sondern nur parteiverdrossen. Und diese Stimmung konnten wir mit unserem Programm gut einfangen."
1.900 Mitglieder in NRW
Wobei das Programm immer noch das Handicap der Piraten ist: Gegründet wurde die Partei im Herbst 2006 als Lobbyorganisation für Internetnutzer, in NRW hat sie momentan rund 1.900 Mitglieder. In erster Linie fordern sie eine Änderung des Urheber- und der Patentrechts inklusive Legalisierung von Privatkopien aus dem Netz, weswegen sie von der Öffentlichkeit oft als Schutzpartei der Raubkopierer wahrgenommen werden. Weitere Themen der Piraten sind ein besserer Datenschutz, mehr Transparenz bei politischen Entscheidungen, mehr direkte Demokratie sowie eine kostenlose und frei zugängliche Bildung für alle vom Kindergarten bis zum Studium. In anderen Punkten ist die Partei allerdings noch etwas dünn auf der Brust und gibt das unumwunden zu: "In Wirtschaftsfragen und außenpolitischen Angelegenheiten besteht zwar eine rege Diskussion unter den Anhängern", sagt Marsching. "Aber eine einheitliche Parteimeinung haben wir noch nicht." Sicher sind sie sich aber, nicht als links abgestempelt werden zu wollen: "Eine parteiideologische Brille steht uns nicht", sagt Marsching.
Sie fordern Urheberrechtslockerung und Gratis-ÖPNV
Von den etablierten Parteien werden sie ernst genommen. Im Interview mit WDR 5 sagte NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft: "Das werden wir uns jetzt mal anschauen, ich bin gespannt. In NRW sind sie im vergangenen Jahr ja auch gestartet, aber nicht so gut gelandet, obwohl ihnen eine gute Zukunft vorhergesagt wurde." Tatsächlich blieben die Piraten bei der Landtagswahl im Mai 2010 hinter den Meinungsumfragen zurück: 1,6 Prozent der Wähler konnten sie verbuchen, in Prognosen hatten sie um die drei Prozent gelegen. Bei der Bundestagswahl im Jahr zuvor hatten sie immerhin noch bei zwei Prozent gelegen. Warum aber jetzt diese Überraschung in Berlin? "Berlin ist großstädtischer, da kommen wir mit unseren progressiven Forderungen wie kostenlosem ÖPNV besser an", sagt Michele Marsching. "Nordrhein-Westfalen ist ländlicher strukturiert, hier ticken die Uhren anders. Da wurden wir im Wahlkampf schon das ein oder andere Mal komisch angeschaut." Allerdings haben sich die Piraten auch schon Gedanken gemacht, wie sie auf dem Land punkten können: "Das Thema Transparenz ist auch in kleinen Gemeinden und Städten ein wichtiges Thema. Die Bürger verstehen hier einfach nicht, wie politische Entscheidungen zustande kommen", sagt Marsching, der in Weeze lebt.
Meinungsbildung per Internetforen
In ihrer Partei wollen sie alles so offen wie möglich gestalten, auch auf die Gefahr hin, dass sich Meinungsbildungen in die Länge ziehen können und ihre politische Handlungsfähigkeit dadurch in Frage gestellt werden könnte. "Liquid Feedback" nennen sie die Diskussionsforen im Internet, in denen Anträge eingestellt und von den Mitgliedern bewertet und verändert werden können. Gewisse Quoren und Fristen müssen dabei eingehalten werden. "Es ist eine Balanceakt zwischen Minderheitenschutz und effektiver Meinungsbildung", so Marsching. Auch auf ihrem nächsten "Tag der politischen Arbeit" wollen sie so verfahren, einer Art Parteitag, an dem man auch via Wiki und Mailinglisten teilnehmen kann.
Aktuelle Umfragen für Bund und NRW gibt es nicht
Diese politische Meinungsfindung ist dingend nötig: Zwar hatten die Piraten in NRW ein Wahlprogramm, allerdings haben sie bis heute kein Grundsatzprogramm ausgearbeitet. Das soll sich jetzt ändern, schließlich sind Neuwahlen in Bund oder Land möglich. "Dieses Damoklesschwert ist uns bewusst", sagt der Landeschef. Wieviel Zuspruch sie momentan in NRW oder auf Bundesebene erhalten würden, weiß niemand genau. Selbst Infratest Dimap liegen dafür noch keine Erhebungen vor, bislang laufen sie bei der Sonntagsfrage unter Sonstige. Auch das wird sich nach der Berlin-Wahl jetzt ändern.