Möglich, dass das Leben noch gute Zeiten für Hélène bereithält. An diesem Vormittag aber scheint die junge Frau an ihrem bisherigen Tiefstpunkt angelangt. Ängstlich um sich schauend, sitzt sie auf einer Bank vor dem Gebäude der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Dortmund, neben sich einen kleinen Rollkoffer. Auf den Grünflächen drumherum stehen viele Menschen in kleinen Grüppchen, die meisten blicken sorgenvoll, andere diskutieren aufgeregt in verschiedenen Sprachen oder scheinen ratlos auf etwas zu warten - so wie Hélène. Sie sei heute Morgen aus Guinea hier angekommen, sagt sie leise auf französisch, und kenne keine Menschenseele in Deutschland. Sie sei erst 17 Jahre alt, zuhause habe ihr Vater sie mit einem alten Mann verheiraten wollen. Tränen laufen der jungen Afrikanerin über das Gesicht: "Ich weiß nicht, was jetzt mit mir passiert." Jemand an der Anmeldung habe ihr gesagt, sie solle hier draußen mit ihrem Koffer warten, sie würde gleich abgeholt.
Welten treffen am Zaun aufeinander
Eingezäunt liegt das Gelände der Erstanlaufstelle im ruhigen Dortmunder Stadtteil Hacheney, mitten in einer Wohnsiedlung. Während jenseits des Zauns junge Familien ihre Lebensplanung im kleinen Reihenhäuschen mit Garten in die Tat umsetzen, sind diesseits Menschen aus aller Welt versammelt, deren Zukunft völlig ungewiss ist, seitdem sie in ihrem Heimatland einen Koffer mit dem Nötigsten packten und aufbrachen Richtung Deutschland. Manche flohen vor Verfolgung oder Krieg, andere vor Armut oder Rassismus, oder sind auf der Suche nach einem besseren Leben. Manche werden mit Kleinbussen ominöser Schlepper an das Eingangstor des Geländes gefahren, andere kommen mit Kindern und Koffern zu Fuß in Dortmund-Hacheney an.
Rund um die Uhr Hochbetrieb
Wer nach NRW kommt und Asyl sucht, landet unweigerlich zunächst in einer der beiden zentralen Erstaufnahmestellen in Dortmund oder Bielefeld. Dort werden die Personalien aufgenommen, dann bekommt der Flüchtling einen Schlafplatz zugewiesen. 300 Betten stehen in den zweistöckigen Gebäuden einer ehemaligen Dortmunder Gehörlosenschule bereit, 50 bis 100 Asylsuchende treffen täglich neu hier ein, sagt Birgit Rauch, Abteilungsleiterin der Zentralen Ausländerbehörde in Dortmund. Sie koordiniert die Abläufe in der Erstaufnahmestelle. "Es ist jeden Tag der blanke Wahnisnn", sagt sie.
Seit fünf Jahren steigt die Zahl der Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl beantragen, kontinuierlich. Waren es 2008 noch 28.000 Menschen, lag die Zahl 2010 schon bei 48.000. Im Jahr 2011 kamen 53.000 Menschen, und bis Juli 2012 waren es bereits 33.450. Flüchtlingsorganisationen sehen die Ursache dafür in der Entwicklung in den arabischen Ländern, aber auch in der unsicheren Lage in Afghanistan und im Irak. Auch aus dem Balkan kommen immer mehr Roma-Familien nach Deutschland. In Dortmund stellen Familien aus Mazedonien zurzeit die größte Flüchtlingsgruppe dar, sagt der städtische Flüchtlingsreferent Frank Binder, gefolgt von Menschen aus Syrien und Serbien. In den zentralen Erstaufnahmestellen herrscht rund um die Uhr Hochbetrieb, in Dortmund haben die Mitarbeiter oft Mühe, die Lage unter Kontrolle zu behalten.
Denn nach offiziellem Plan sollen ankommende Asylbewerber höchstens drei Tage in der Erstaufnahmestelle bleiben. Sie müssen sich einer Röntgenuntersuchung der Lunge unterziehen, dann soll die sogenannte Anhörung durch den "Entscheider" beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stattfinden, in der die Flüchtlinge ihren Asylantrag begründen müssen. Wird der Antrag nicht direkt abgelehnt, sollen die Betroffenen in eine der beiden "Zentralen Unterbringungseinrichtungen" NRWs gebracht werden. Hier, im sauerländischen Hemer oder im münsterländischen Schöppingen, sollen sie auf die Entscheidung über ihren Asylantrag warten, maximal drei Monate. Wer anerkannt wird, kann an seinen endgültigen, ihm zugewiesenen Wohnort in NRW ziehen. Abgelehnte Bewerber erhalten einen Abschiebebescheid.
Stau schon bei der Anhörung
"Der Knackpunkt liegt aber schon bei der Anhörung", sagt Birgit Rauch. Gerade mal zehn "Entscheider" sitzen in der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in Dortmund. Bei 50 bis 100 Neuankömmlingen pro Tag sei der Stau hier vorprogrammiert, sagt Rauch. "Wir müssen uns jeden Tag neu strukturieren." Häufig würden Neuankömmlinge daher direkt in die Zentrale Unterbringung gebracht, um dort auf die Anhörung zu warten - vorausgesetzt, in einem der beiden 500-Betten-Heimen ist überhaupt Platz. Wenn nicht, "dann nehmen wir den Telefonhörer in die Hand und versuchen, Hotelzimmer zu bekommen", sagt Rauch. Oft bleibe dann keine Zeit mehr für die Röntgenuntersuchung, denn auch dorthin müssen die Menschen mit Bussen gefahren werden. Steht der Termin für die Anhörung dann endlich an, müssen sie wieder nach Dortmund geholt werden. Wegen der Personalknappheit seien oft die Anhörenden nicht diejenigen, die die Entscheidung über den Asylantrag treffen, kritisiert Flüchtlingsreferent Binder außerdem.
"Neue Kunden für die Bahn"
Fast zum Hoffnungsträger wird da Manfred Kuckuk. Er sitzt in der zweiten Etage des Verwaltungsgebäudes in Dortmund und gibt jeden ankommenden Flüchtling in seinen Computer ein. Das System mit dem Namen "Easy" kontrolliert dann, ob das Flüchtlingskontingent, das NRW aufnehmen muss, nicht gerade schon erfüllt ist. Ist das der Fall, zeigt das Programm direkt an, in welches andere Bundesland der Neuankömmling zur Erstaufnahme geschickt werden muss. Gerade hat Kuckuk einen Flüchtling aus "Syrien, männlich" eingegeben. Und siehe da: Der Mann muss weiter reisen nach Neumünster in Schleswig-Holstein. "So verschaffe ich der Deutschen Bahn regelmäßig Kundschaft", scherzt Kuckuk.
Situation war absehbar
"Humanitär und rechtlich ist dieser Zustand eine Katastrophe", sagt Karin Asboe, Referentin für Flüchtlingsarbeit bei der Diakonie Rheinland Westfalen-Lippe. "Menschliche Bedürfnisse auf allen Seiten können kaum noch wahrgenommen werden." Ihrer Ansicht nach sei diese Situation "für alle absehbar" gewesen. Schließlich seien auch die Zentralen Unterbringungseinrichtungen schon lange "überfüllt bis zum Limit", ohne, dass dort zusätzliches Personal eingestellt würde. Die Unterkünfte in Dortmund und Schöppingen werden mittlerweile vom privaten Dienstleister "European Homecare" betrieben. Häufig seien die Flüchtlinge dort nur unter minimaler Betreuung, sagt Asboe.
Spitzenlasten abbauen
"Uns ist die Situation bekannt", sagt Robert Drews vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Zurzeit versuche das Amt, Entscheider von anderen Stellen kurzfristig nach Dortmund oder Bielefeld zu verlagern, "um die Kollegen dort zu entlasten". Außerdem könnten auch Entscheider in anderen Bundesländern eine Anhörung in NRW beurteilen. "So wollen wir die Spitzenlasten abbauen." Insgesamt 56 neue Stellen seien in den vergangenen vier Jahren eingerichtet worden, 180 Entscheider seien derzeit bundesweit im Dienst. Allerdings seien auch die Länder in der Pflicht, neue Unterbringungsmöglichkeiten für die steigenden Flüchtlingszahlen zu schaffen. Wieviele Flüchtlinge ein Bundesland aufnehmen muss, wird jedes Jahr neu berechnet, ausgehend von den jeweiligen Steuereinnahmen und der Bevölkerungszahl. Für 2012 entfällt auf NRW eine Verteilungsquote von 21,4 Prozent - der weitaus größte Teil im bundesweiten Vergleich: An zweiter Stelle liegt Bayern mit gut 15 Prozent, gefolgt von Baden-Württemberg mit 12,8 Prozent.
Stumm vor Entsetzen
Was aus der jungen Afrikanerin Hélène wird, ist angesichts der Überlastung der Ausländerbehörden fraglich. "Viele Flüchtlinge, die hier ankommen, sind psychisch krank oder schwer traumatisiert", sagt Ilda Kolenda, die in der Erstaufnahmestelle im Auftrag der Diakonie Menschen betreut, die zusätzliche Hilfe brauchen. Immer wieder seien in den letzten Wochen Frauen aus dem syrischen Aleppo angekommen, die nach dem, was sie erlebt hatten, gar nicht mehr sprechen konnten. Ihnen unter dem gegebenen Zeitdruck gerecht zu werden, sei sehr schwierig. "Wenn man solche Menschen direkt weiter schickt, macht man sie zu Paketen auf einem Fließband", sagt Ilda Kolenda. Ein Mitarbeiter des Jugendamts wird Hélène aus Guinea gleich "in Augenschein nehmen", um abzuschätzen, ob das Mädchen wirklich erst 17 Jahre alt ist. Sollte sich das bestätigen, werde Hélène der Jugendhilfe übergeben, "dann ist sie rundum versorgt". Wenn nicht, muss sie zur Anhörung, wie alle anderen erwachsenen Flüchtlinge. Dann könnte es schwierig für sie werden, meint Ilda Kolenda: "Eine Zwangsehe zu beweisen, ist sehr schwierig. Die Frau hat nur sich selbst als Zeugen." Hélène hat ohnehin nur sich selbst.