New York ein Jahr später

Viel geweint, wenig getrauert?

Stand: 10.09.2002, 14:40 Uhr

New York, ein Jahr später: Die Hotdogs heißen hier noch immer Frankfurter. Die Polizisten noch immer "cops". Nur die Feuerwehrmänner heißen jetzt alle "our heroes". Und die Mädels im Minirock, die am Times Square ihrer Arbeit nachgehen, tragen keine Schutzmasken mehr vor Mund und Nase. Der Staub der einstürzenden Türme hat sich verflüchtigt. Der Dreck in den Straßen von Manhattan ist noch da: neuer, frischer Dreck. Hausgemacht in New York City an 365 Tagen des Jahres.

Von Herbert Bopp

Auch der Harmonikaspieler vor meinem Hotel ist noch immer da. Genau wie vor einem Jahr, als ich für WDR.de über Trümmer, Schmerz und Leid im frisch verwundeten New York berichtet hatte. Sein musikalisches Repertoire scheint im vergangenen Jahr nicht gewachsen zu sein. Je nach Stimmungslage bläst er Polka, Blues oder Trauermusik.

Die Luft ist viel zu heiß für einen Septembermorgen, New York bräuchte dringend Regen. Der Staub brennt in den Augen. Diesmal ist es Straßenstaub, nicht Trümmerstaub. Von Ground Zero her riecht es jetzt nicht mehr nach verbranntem Plastik, Styropor und Papier. Die Putzkolonnen haben gute Arbeit geleistet. Sie ließen sich ja auch viel Zeit: Fast ein Jahr haben die Aufräumarbeiten gedauert. Die Menschen- und Mauerreste von Ground Zero wurden über den Fluss hinweg nach Staten Island geschafft. In einen Ort, der "Great Kills" heißt.

"Wir waren plötzlich ganz klein"

Madam Liberty im Trauerflor | Bildquelle: WDR/Bopp

New York ist noch immer New York. Auch wenn es nicht mehr das ist, was es einmal war. Es fehlen nicht nur die beiden Türme. Der Stadt fehlt so etwas wie Mäßigung, Bescheidenheit, Demut vor den geschichtlichen Ereignissen. Die Sanftmut, die sich während der ersten Trauerphase wie ein schützender Schleier über New York gelegt hatte, scheint sich mit den eingestürzten Twintowers in Staub und Asche aufgelöst zu haben. Die Taxifahrer sind wieder missmutig wie eh und je. Die Cops sowieso. Und der New Yorker an sich?

"Wir waren plötzlich ganz klein", beschrieb mir mein Reisebegleiter Marc Gendron im Zug von Montréal nach New York die Stimmung unmittelbar nach dem 11. September. "Heute reißen wir wieder die Klappe auf und zeigen Muskeln, wo es nur geht. Nur "our heroes", die Feuerwehrleute, zeigen so etwas wie Klasse. Kein Wunder: Die Medien haben die Firefighters in den vergangenen zwölf Monaten in den siebten Himmel geschrieben. 

Die Jungfräulichkeit verloren

New York habe am 11. September vorigen Jahres seine Jungfräulichkeit verloren, will mir ein alter Mann im Herald Square Park weis machen. Welche Jungfräulichkeit? Etwas Hurenhaftes hatte dieser Moloch doch schon immer: faszinierend und schrill, geldhungrig, mitunter hygienisch unrein und dabei doch aaaahhhhh so sexy.

New York hat lauthals geweint, anstatt zu trauern | Bildquelle: WDR/Bopp

Der freundliche Koreaner hinter dem Tresen der Kleiderreinigung an der 7th Avenue sagt, New York habe die Spielregeln der Trauer nicht eingehalten. "Bei uns in Korea", erzählt mir der Mann, "wird nach dem Tod eines Menschen zuerst leise getrauert und dann laut geweint. In New York dagegen wurde nur lauthals geweint." Nicht nur: Die Freiheitsstatue trägt in diesen Tagen Trauerflor. Zumindest die "Statue of Liberty" vor dem Souvenirladen an der "Avenue of the Americas".

911 Dollar für ein Interview

Ein Überlebender will Geld für jedes Interview | Bildquelle: WDR/Bopp

Trauerarbeit gegen Bezahlung - das gibt es vermutlich nur in Amerika. Die New York Post echauffiert sich in ihrer Montagausgabe über einen 9/11-Survivor, der Interviews nur gegen Bares gibt. Edward Fine ist der Mann, dessen Foto damals um die Welt ging: Eingehüllt in Trümmerstaub, Handtuch vor Mund und Nase, als kämpfe er gegen Wüstensand an. Mr. Fine konnte sich gerade noch rechtzeitig aus dem 79. Stockwerk des North Tower retten, ehe die Türme einstürzten. Journalisten, die den Geschäftsmann zum bevorstehenden Jahrestag interviewen wollen, bittet Mr. Fine zur Kasse: 911 Dollar pro Gespräch. Sechs Mal soll er schon abkassiert haben. Die New York Post nennt das Honorar "Blutgeld".