Nach Angaben seiner Anwälte wird Thomas Middelhoff seit Dienstag (07.04.2015) erneut in der Uniklinik Essen behandelt. In einer Pressemitteilung heißt es: "Die bereits vor Monaten festgestellte Erkrankung - die behandelnden Ärzte gehen von einer seltenen Autoimmunkrankheit aus - hat sich unter den Bedingungen der Haft weiter verschlechtert. Aus Sicht der Verteidigung besteht bei Herrn Dr. Middelhoff Haftunfähigkeit." Die Rechtsanwälte des früheren Arcandor-Chefs haben deshalb beim Landgericht Essen "sofortige Haftprüfung" beantragt.
Darüber hinaus fahren Middelhoffs Anwälte schweres Geschütz gegen die Essener Justizvollzugsanstalt auf: "Der über Wochen praktizierte und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt gerechtfertigte Schlafentzug in der JVA Essen und die sodann eingetretene gravierende und nur unzulänglich behandelte Autoimmunerkrankung liegen in der Verantwortung der Justiz", teilten sie weiter mit.
Alle 15 Minuten geweckt worden?
Ex-Top-Manager Middelhoff sitzt in der Justizvollzugsanstalt Essen ein, nachdem er im November 2014 wegen Untreue und Steuerhinterziehung zu drei Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt wurde. Das Urteil ist zwar noch nicht rechtskräftig, Middelhoff musste trotzdem hinter Gitter: Fluchtgefahr. Die "Bild am Sonntag" berichtete, seine Anwälte hätten im Februar beim Oberlandesgericht Hamm Haftbeschwerde eingelegt. Middelhoff habe im Gefängnis über einen Zeitraum von 672 Stunden nicht schlafen können, weil er zwischen Mitte November und Mitte Dezember tagsüber und nachts alle 15 Minuten geweckt worden sei. Er habe unter ständiger Beobachtung gestanden, weil die Anstaltsleitung befürchtete, er sei suizidgefährdet. Vier Wochen sei die sogenannte Lebendkontrolle durchgeführt worden. Das Wachpersonal sollte feststellen, ob der Insasse noch atmete.
Für die Anwälte steht fest: Der Schlafentzug hat ihren Mandanten krank gemacht. Laut "Bild am Sonntag" haben sie auch eine Suizidgefahr bestritten - und Middelhoffs Behandlung sogar mit der der Gefangenen in dem berüchtigten Lager Guantanamo verglichen.
Landgericht Essen weiß nichts von Krankheit
Was en detail in der Haftbeschwerde vom Februar stand, mit welcher Begründung Middelhoff aus der Haft geholt werden sollte, ist unklar. Middelhoffs Anwälte äußerten sich dazu nicht. Beim Landgericht Essen, das das Urteil gegen den früheren Top-Manager gesprochen und deswegen als erste Instanz die Haftbeschwerde bekommen hatte, heißt es lediglich, dass darin keine Rede von einer Erkrankung gewesen sei. Das Oberlandesgericht Hamm äußerte sich auf Nachfrage des WDR nicht zu Middelhoffs Gesundheitszustand. Fest steht nur, dass seine Haftbeschwerde verworfen wurde: Es bestehe "weiterhin der Haftgrund der Fluchtgefahr".
Angst vor "Bilanz-Selbstmord"
Auch das Justizministerium sagte, man kenne den Inhalt der Haftbeschwerde nicht, wisse auch nicht, ob Middelhoff tatsächlich zur Behandlung in der Universitätsklinik gewesen sei. Dazu will sich auch die Anstaltsleitung nicht äußern. Ministeriumssprecher Detlef Feige bestätigte aber auf Anfrage des WDR, dass Middelhoff im 15-Minuten-Abstand kontrolliert wurde. Bei einer solchen Kontrolle werde ein Blick durch den Türspion geworfen und gegebenenfalls ein Licht angemacht. Das lasse sich oft dimmen: "Das merken die meisten gar nicht." Er präzisierte später aber, dass sich das Licht in Middelhoffs Zelle nicht dimmen ließ.
Angenehm sei das nicht, so Feige, "aber das geschieht zu seinem eigenen Schutz". Gerade Menschen, die aus einem ganz anderen Umfeld kämen und keine Erfahrung mit Haft hätten, müssten überwacht werden. "Die machen sich tausend Gedanken, können nicht einfach raus, fragen sich, was ist jetzt mit meinem Leben?" Außerdem, gibt Feige zu bedenken: "Was ist, wenn tatsächlich etwas passiert?"
Weniger Suizide in Gefängnissen
Die Kontrolle sei eine Möglichkeit, Suizide zu verhindern, so Feige. Diese Lebendkontrolle, möglicherweise gekoppelt mit einer psychologischen Betreuung, kann nach einer ersten ärztlichen Untersuchung angeordnet werden - im Gesetz wird das eher allgemein mit "Sicherungsmaßnahmen" umschrieben. Wie die konkret aussehen, ist eine Frage der Praxis beziehungsweise der Vorschriften. Der 15-Minuten-Abstand etwa ist vom Ministerium vorgeschrieben worden - so könnte ein Häftling notfalls noch reanimiert werden. Denn hunderprozentigen Schutz vor Suiziden bieten auch die Kontrollen nicht. Allerdings ist die Zahl der Selbsttötungen laut Sprecher Feige deutlich zurückgegangen. Von jährlich 20 bis 30 Ende der 1990er Jahre auf durchschnittlich elf in den vergangenen drei Jahren.
Empörung über Guantanamo-Vergleich
Den Vergleich mit den Bedingungen in Guantanamo, der angeblich gezogen wurde, wies Feige als "Unverschämtheit" zurück, genau wie die Leitung der JVA Essen. Die Grünen-Politikerin Renate Künast hatte die Meldungen zum Anlass genommen, die "Verletzung der Menschenrechte" anzuprangern, die durch nichts zu rechtfertigen sei: "Andauernder faktischer Schlafentzug durch sogenannte Selbstmordprävention zerstört einen Menschen physisch und psychisch." Maria Scharlau, Referentin für internationales Recht bei Amnesty International, kommentierte den Fall so: "Wenn Middelhoff durch das Anschalten des Lichts tatsächlich jede Viertelstunde geweckt wurde und deswegen keine Nacht schlafen konnte, dann ist das menschenrechtlich nicht zulässig."
Videoüberwachung keine Alternative
Künast schlug vor, betroffene Insassen auf eine Doppel- oder Begegnungszelle zu verlegen. Das hätte die JVA Essen tatsächlich tun können. Doch die Leitung entschied sich nach eigenen Angaben für eine Beobachtung. Andere Alternativen wie eine ständige Videoüberwachung kämen nicht in Frage, sagte Ministeriumssprecher Feige. Zum einen müssten dann zuviele Monitore überwacht werden: "Außerdem hat ein Untersuchungshäftling auch ein Recht auf Privatsphäre." Und ihm das Recht auf den Selbstmord zuzugestehen? "Das geht nicht", sagt Feige, "er ist ja in unserer Obhut."