MONITOR vom 30.11.2017

Der Fall Oury Jalloh: Justizskandal ohne Ende

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Bericht: Naima El Moussaoui, Andreas Maus

Der Fall Oury Jalloh: Justizskandal ohne Ende

Monitor 30.11.2017 09:03 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste

Achim Pollmeier: „Es ist einer der größten Justizskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte: 12 Jahre lang haben die Justizbehörden in Sachsen-Anhalt der Öffentlichkeit erzählt, der Asylbewerber Oury Jalloh habe sich Anfang 2005 in seiner Arrestzelle vermutlich selbst angezündet, das Verfahren dazu wurde in diesem Oktober eingestellt. Wenig später wurden uns die vertraulichen Ermittlungsakten zu dem Fall zugespielt. Und sie zeigen: Die offizielle Version der Staatsanwaltschaft ist mehr als fragwürdig. Das wichtigste vielleicht ist dieses Schreiben: Ein leitender Oberstaatsanwalt schreibt darin von einer wahrscheinlichen Tötung durch andere, und sogar von Mordverdacht. Vor zwei Wochen haben wir zum ersten Mal über unsere Recherchen berichtet, und letzte Woche gab es deshalb eine Debatte im Magdeburger Landtag. Vor allem CDU und AfD wollen das Thema wohl abbügeln.“

„Diese Berichterstattung ist verantwortungslos und spottet jeder Beschreibung.“

„Was hier gemacht wird, was hier gemacht wird, dieses pausenlos darauf Rumreiten, das ist nichts anderes wie Leichenfledderei zu Propagandazwecken.“

„Eine Hetzjagd auf Polizeibeamte oder an den Ermittlungen beteiligten Personen darf es nicht geben, meine Damen und Herren.“

Achim Pollmeier: „Hetzjagd? Nein, einfach nur Recherche. Und weil wir damit eben nicht aufhören, sind Naima El Moussaoui und Andreas Maus auf ein denkwürdiges Treffen gestoßen.“

Würzburg am 01. Februar 2017. Im rechtsmedizinischen Institut der Universität treffen sich Staatsanwälte aus Dessau mit Brandexperten, Toxikologen, Rechtsmedizinern und Chemikern. Es ist ein entscheidendes Treffen im Fall Oury Jalloh. Von dieser Sitzung wissen bis heute nur die Teilnehmer und die Ermittlungsbehörden.

Die Experten diskutieren ihre Brandgutachten und Befunde. Dieses Treffen verändert die gesamte Sicht auf einen der größten Justizskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Prof. Gerold Kauert, Forensischer Toxikologe: „Das Würzburger Sachverständigen Gremium kam zu dem Ergebnis, dass die Theorie der Selbstanzündung nach den neueren Ergebnissen, auch der Experimente nicht zu halten war.“

Der Fall Oury Jalloh. Polizisten aus dieser Dessauer Polizeiwache nehmen den betrunkenen Asylbewerber am Morgen des 7. Januars 2005 fest. Der 36-Jährige Mann aus Sierra Leone landet hier in einer Arrestzelle im Keller des Polizeireviers. Die Beamten fesseln ihn auf dieser feuerfest ummantelten Matratze. An Händen und Füßen. Gegen Mittag lebt Oury Jalloh nicht mehr. Er ist verbrannt.

Ein LKA-Video vom Tatort zeigt: von Anfang an legen sich die Ermittler fest:

Video: „Ich begebe mich jetzt in den Keller, in dem sich ein schwarzafrikanischer Bürger in einer Arrestzelle angezündet hat.“

Bei dieser Annahme bleibt es 12 Jahre lang. Oury Jalloh soll sich selbst angezündet haben. Hier sollte die Geschichte enden. Denn die Staatsanwaltschaft Halle hat am 12. Oktober die Ermittlungen eingestellt. Trotz neuer Erkenntnisse. In der Begründung heißt es:

Es habe „keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für die Beteiligung Dritter“ an der Brandlegung gegeben.

Die Staatsanwaltschaft betont dabei die angeblich „widerstreitenden, sich teils wechselseitig ausschließenden Darlegungen“ der Sachverständigen.

Doch hier beginnt die eigentliche Geschichte - und unsere Recherche. Denn in den Ermittlungsakten, die MONITOR vorliegen, stoßen wir auf das denkwürdige Treffen in Würzburg. Das Treffen jener Experten, die laut Staatsanwaltschaft zu „widerstreitenden“ Ergebnissen gekommen sein sollen. War das so?

Wir treffen Gerold Kauert. Der Toxikologe ist einer der Sachverständigen. Widersprüche habe es in fachlichen Details gegeben, sagt er. Insgesamt aber widerspricht Kauert der Darstellung der Staatsanwaltschaft Halle. Erstmals auch öffentlich:

Prof. Gerold Kauert, Forensischer Toxikologe: „Zwischen den Sachverständigen der Brandexpertise und der Medizin bestand Einigkeit darüber, dass auch unter Einbeziehung der neuen Ergebnisse vom bisherigen Ablauf des Todesgeschehens von Oury Jalloh nicht mehr ausgegangenen werden kann. Das heißt, die Theorie der Selbstanzündung erschien nicht mehr Gegenstand des Möglichen.“

Eine Selbstanzündung also praktisch ausgeschlossen. Beim Treffen in Würzburg fällt die 12 Jahre lang verfolgte These in sich zusammen.

Diese Erkenntnis beruht vor allem auf einem Brandversuch im August 2016 in Schmiedeberg, Sachsen. Die Brandexperten hatten die Dessauer Polizeizelle nachgebaut, um herauszufinden, was wirklich geschah. Die Schlussfolgerungen fast aller Experten lassen kaum noch Zweifel an einem Fremdverschulden. So müssen geringe Mengen Brandbeschleuniger wie Feuerzeugbenzin eingesetzt worden sein, um das Brandbild in der Zelle zu erklären.

Und Oury Jalloh sei höchstwahrscheinlich handlungsunfähig oder bereits tot gewesen, als das Feuer ausbrach. Dafür spricht auch, dass im Körper des Toten ein niedriger Adrenalinspiegel festgestellt wurde. Wäre Oury Jalloh bei Bewusstsein gewesen, hätte dieser viel höher sein müssen.

Prof. Gerold Kauert, Forensischer Toxikologe: „Wenn man bei lebendigen Leibe verbrennt, dann ist das eine maximale Stressierung mit massivster Adrenalinausschüttung.“

Die Ergebnisse der Gutachter führen bei der Dessauer Staatsanwaltschaft zu einer drastischen Kehrtwende. 12 Jahre hatte der Leitende Oberstaatsanwalt Folker Bittmann, die These der Selbstanzündung verfolgt. Doch das Würzburger Treffen wird auch für ihn zu einer Zäsur. In einem internen Schreiben vom 4. April 2017 spricht er jetzt sogar von Mordverdacht und benennt Tatverdächtige. Über dieses Schreiben hatte Monitor vor kurzem erstmals berichtet.

Der Kriminologe und Jurist Thomas Feltes hat sich für uns die Akten angeschaut - insbesondere Bittmanns Schreiben.

Prof. Thomas Feltes, Kriminologe: „Also wenn ein leitender Oberstaatsanwalt im Grunde genommen seine Meinung um 180 Grad ändert, dann ist das sehr ehrenvoll für ihn. Denn viele hätten das nicht gemacht. Vor allem aber ein deutlicher Hinweis, dass solche massiven Beweise und Gutachten und Ergebnisse vorliegen müssen, dass tatsächlich eben weiter ermittelt werden muss. Sonst hätte das der Oberstaatsanwalt nicht gemacht.“

Doch kurz danach ist dieser Oberstaatsanwalt nicht mehr zuständig. Die Staatsanwaltschaft Halle übernimmt und stellt die Ermittlungen nach wenigen Monaten ein. Ohne die Sachverständigen selbst anzuhören. Wie kann das sein?

Prof. Thomas Feltes, Kriminologe: „Offen gesagt: politische Einflussnahme. Es gibt für mich keinen anderen Grund, warum die Staatsanwaltschaft in Halle dieses Verfahren einstellt. Sie hat offensichtlich entweder die formelle Weisung bekommen oder den informellen Hinweis, beides ist in der Sache letztendlich das Gleiche, dass man politisch nicht wünscht, dass dieses Verfahren weiter vorangetrieben wird.“

Ein schwerer Vorwurf, den die Justiz-Behörden von sich weisen. Wir fragen die Staatsanwaltschaft Halle mehrfach um ein Interview an. Bekommen aber nur Absagen. Auch das Justizministerium bitten wir um ein Interview: wieder eine Absage. Am vergangenen Freitag treffen wir die Justizministerin Anne-Marie Keding am Rande einer Debatte im Magdeburger Landtag.

Reporterin: „Warum sind Sie nicht bereit, uns ein Interview im Fall Oury Jalloh zu geben?“

Anne-Marie Keding, Justizministerin Sachsen-Anhalt: „Weil das die Angelegenheit der Staatsanwaltschaften ist.“

Reporterin: „Aber Sie sind die übergeordnete Instanz. Warum werden denn die Ermittlungen nicht weitergeführt?“

Anne-Marie Keding, Justizministerin Sachsen-Anhalt: Die Staatsanwaltschaften sind diejenigen, die Justizbehörden sui generis diese Ermittlungen führen.

Reporterin: „Aber es ist ja jetzt die Rede von Justizskandal und damit wäre das ja in Ihrem Bereich. Was tun Sie denn dagegen?“

Dabei hätte die Justizministerin durchaus Möglichkeiten, etwas zu tun.

Prof. Thomas Feltes, Kriminologe: „Die Staatsanwaltschaften sind im Gegensatz zu den Gerichten nicht unabhängig, sondern sie sind weisungsabhängig, dem Justizministerium unterstellt, und deshalb kann die Justizministerin zu jeder Zeit Anweisungen erteilen. Sie kann überprüfen, sie kann quasi Einfluss nehmen.“

Prof. Gerold Kauert, Forensischer Toxikologe: „Es muss jetzt eben weiter ermittelt werden. Und Ergebnisse möglicherweise weiterer Versuche ergeben und dann ist eine Aufklärung vielleicht noch möglich.“

Oury Jalloh starb vor fast 13 Jahren. In der Obhut des Staates, der ihn eigentlich schützen sollte. Doch an Aufklärung ist dieser Staat offenbar nicht interessiert.

Achim Pollmeier: „Auf eins können Sie sich verlassen: Wir werden das weiter verfolgen.“

Stand: 28.11.2017, 13:38 Uhr

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23 Kommentare

  • 23 Almut Frank 02.12.2018, 14:07 Uhr

    Hallo Redaktion, werden Sie nach den neuesten Entwicklungen weiter berichten? Ich würde dies sehr begrüßen und danke Ihnen für Ihre bisherge Recherc ...weiterlesen

  • 22 sigrid 08.12.2017, 18:05 Uhr

    Hallo Susan Bonath von der Zeitung" Junge Welt",die rechtsmedizinischen Gutachten gingen davon aus,dass Jalloh bei Brandausbruch noch gelebt und sei ...weiterlesen

  • 21 uwe 06.12.2017, 11:43 Uhr

    Hallo Susan,vielen Dank für ihre freundliche Antwort.Ich weiß nicht warum Sie wörtlich aus der Akte zitieren obwohl die Staatsanwaltschaft mehrfach ...weiterlesen