Kriminalfälle aus NRW: Zum Sterben in den Gully gelegt
Stand: 22.01.2024, 09:42 Uhr
Nur kurz ist die Strecke für die neunjährige Kassandra von der Hausaufgabenbetreuung nach Hause. Und doch verschwindet sie auf diesem Weg im September 2009 spurlos. Sie wird in Velbert-Neviges Opfer eines Verbrechens, das bundesweit für Aufsehen sorgt.
Von Wolfram Lumpe
Kassandra ist weg
Nach der Schule ins Jugendzentrum - für Kassandra ein ganz normaler Tagesablauf. Am späten Nachmittag des 14. September 2009 macht sie sich von dort auf den Heimweg. Zuhause ankommen wird sie aber nicht. Kassandra ist und bleibt verschwunden, für sieben lange Stunden. Die Polizei behandelt das Ganze erstmal als reguläre Vermisstensache, bei den Eltern wächst die Sorge um ihr Kind mit jeder Minute.
Die Zahl der Suchkräfte von Polizei und Feuerwehr wird größer, je näher die Nacht rückt. "Einer meiner Kollegen hatte persönlichen Kontakt zu einer Suchhundestaffel", erinnert sich Polizist Ulrich Löhe, damals Polizeisprecher der Polizei im Kreis Mettmann, "dadurch haben die auch schnell mitgesucht." Der Parkplatz der örtlichen Turnhalle ist zunächst nur so etwas wie das Lagezentrum der Suchmannschaften. Das wird sich bald ändern.
Gefunden in allerletzter Minute
Ulrich Löhe bekommt um 1.20 Uhr in der Nacht einen Anruf. Der Pressesprecher der Feuerwehr ist dran. "Hast du schon gehört, dass wir ein Mädchen aus dem Kanal gezogen haben?" Eine überraschende Entwicklung, hatte sich doch die Suche zuvor auf ein nahegelegenes Waldstück konzentriert.
Ulrich Löhe war zum Tatzeitpunkt Pressesprecher der Polizei im Kreis Mettmann
Die Überlegung war so grausam wie logisch: Wollte wirklich jemand dem verschwundenen Mädchen etwas antun, dann drängte sich dieses Gebiet praktisch auf. Ein Suchhund mit Namen "Christo" schnüffelt und sucht ganz in der Nähe des Jugendtreffs, in dem die Neunjährige zuletzt war. An einem Gullydeckel schlägt er an.
Größtmögliches Glück
Es ist der Bereich genau hinter der Turnhalle, recht abgelegen und bewachsen. Beinahe ein Wunder: Kassandra lebt. Sie hat schwerste Kopfverletzungen. Auf ihr lagen vier Steine mit einem Gewicht von bis zu 19 Kilogramm.
"In dem Schacht verläuft eine Regenrinne, sodass das Kind auch weitgehend durchnässt gewesen ist", sagt damals Wolfgang Siegmund, Sprecher der eingesetzten Mordkommission, "zu einem späteren Zeitpunkt hätte durchaus auch die Möglichkeit des Ertrinkens für das Kind bestanden." Was Kassandra genau zugestoßen ist, wird erst sehr viel später klar.
Wolfgang Siegmund bei einer Pressekonferenz im Jahr 2009
Kassandra wird auf die Intensivstation des Universitätsklinikums Essen gebracht. Sie bleibt lange im künstlichen Koma. Sie zu befragen, ist für Wochen nicht möglich. Ansonsten besteht für die Ermittler kein Zweifel: Die Neunjährige wurde Opfer eines so brutalen wie einmaligen Kapitalverbrechens.
Dass sie dieses überlebte, war ebenso offensichtlich nicht im Kalkül des Täters. Aber wer ist zu so einer Tat fähig? Was war das Motiv, was der Auslöser? Fragen, die die Polizei mit einem Großaufgebot so schnell wie möglich beantworten möchte. Über Tage werden rund um die Turnhalle Spuren gesichert, Nachbarn befragt. Zunächst ohne konkrete Ergebnisse.
Wochenlange, intensive Fahndung
In Velbert-Neviges geht im Herbst 2009 kaum noch ein Kind alleine in die Schule oder zum Sport, die Eltern passen mit Argusaugen auf. Angst geht um, denn der Täter ist ja noch irgendwo, vielleicht im Stadtteil und ganz in der Nähe.
Die Mordkommission wird vergrößert, Satellitenaufnahmen des Areals werden ausgewertet. Die Polizei befragt Bürger, verteilt Handzettel, sucht mögliche weitere Zeugen. Vielleicht hat ja noch jemand Kassandra kurz vor ihrem Verschwinden gesehen.
Der Täter: ein 14-Jähriger
Anfang Oktober löst sich die Spannung. Ein Tatverdächtiger ist gefasst. Und der ist 14 Jahre alt. Damit hatte niemand gerechnet. Ein Jugendlicher, selbst fast noch ein Kind, ist zu einem solchen Maß an Brutalität fähig? Erneut tritt Mordkommissions-Leiter Siegmund vor die Öffentlichkeit. Es besteht dringender Tatverdacht:
Die Polizei spricht über den festgenommenen Täter
00:13 Min.. Verfügbar bis 22.01.2026.
"Einem 14-Jährigen hätte ich das nicht zugetraut, das war für mich unvorstellbar", sagt Ulrich Löhe heute. Alleine, einen 30 bis 40 Kilogramm schweren Gullydeckel zu öffnen, das habe doch eigentlich die Kräfte eines Erwachsenen erfordert.
Und doch: "Es haben sich dann Spuren verdichtet, dass wir selbst schon am ersten Tag, selbst in der Nacht, als wir hier noch gesucht haben, mit demjenigen zu tun hatten, der sich als der Täter herausgestellt hat." Der junge Tatverdächtige war nämlich direkt nach der Tat als möglicher Zeuge befragt worden.
Täter wurde beobachtet
Er habe nichts mitbekommen, sagt der Jugendliche damals. Zum Tatverdächtigen wird er, weil andere Zeugen ihn am Tatabend im Bereich der Turnhalle gesehen haben. Wie er von hier mit dem Fahrrad "fluchtartig wieder abgehauen ist", so Löhe. Es dauerte dann noch ein paar Wochen, bis auch die Auswertung von DNA-Spuren klar in die Richtung des Jugendlichen deuteten. Er wird verhaftet und kommt in Untersuchungshaft. Hier erklärt eine Kriminalpsychologin, wie es dazu kommt, dass Jugendliche schwere Gewaltverbrechen begehen.
Kassandra verbringt Monate in der Uniklinik Essen
Kassandra selbst wird Wochen später wach, die schweren Kopfverletzungen wird sie überleben. Und ihre Psyche hilft ihr bei der Verarbeitung des Erlittenen: Kassandra hat ganz offenbar nicht den Hauch einer Erinnerung an die Tat. Also leidet sie auch nicht an möglichen Folgen wie einer Traumatisierung.
Anja Zahlmann kennt dieses Phänomen. Die Diplom-Psychologin und Gerichtsgutachterin hat ähnliches auch schon von anderen jungen Verbrechensopfern gehört. "Sie erzählen dann: Ich bin im Krankenhaus wach geworden, da waren diese lieben Polizisten, die sich um mich gekümmert haben. Sie haben immer mit mir gespielt und die Krankenschwestern waren auch ganz lieb."
Körperlich gehe es dabei um Hormonausschüttung. Auch bei Unfällen werde das Gehirn so "ausgeschaltet", es gebe dann keine konkreten Erinnerungen und eben keine Traumatisierung. "Die Aufmerksamkeit nach der Tat, die behütete Kindheit zuvor - wir Psychologen nennen das den sekundären Krankheitsgewinn." Die Gewinnerin hier war Kassandra.
Anja Zahlmann spricht über den Fall Kassandra
Anja Zahlmann ist ebenfalls Velberterin, sie hat Kassandra auch kennengelernt. Denn ihr Ehemann Holger Boden vertrat Kassandra und deren Eltern als Nebenkläger im Prozess gegen den Jugendlichen. Als er die Familie kurz nach der Tat kennenlernt, überrascht ihn eins: Groll oder Wut gegen den mutmaßlichen Täter äußern weder Vater noch Mutter.
"Wenn ich mir vorstelle, das wäre mein Kind gewesen, man findet es dem Tod näher als dem Leben, ich glaube, ich wäre einfach voller Zorn gewesen", sagt Zahlmann. "Das waren sie nicht. Vielleicht war das so eine Art Schutzfunktion. Dass man sagt: Ich lasse das gar nicht so nah an mich ran. Ich baue einen Schutzwall, um davon nicht aufgefressen und aufgezehrt zu werden."
Der Prozess
Im April 2010 beginnt am Wuppertaler Landgericht der Prozess gegen den dann 15 Jahre alten Angeklagten. Nach Monaten des Schweigens gesteht er die Tat. Auch, um Kassandra eine Aussage vor Gericht zu ersparen. So begründet es damals seine Anwältin.
Der Prozess fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt (Archivfoto)
Das Ziel ist klar: Hätte Kassandra vor Gericht erscheinen müssen, wäre das Strafmaß wohl deutlich höher ausgefallen. So wird er am Ende zu einer Jugendhaftstrafe von achteinhalb Jahren verurteilt. Wie bei Angeklagten unter 18 üblich, findet der Prozess unter vollständigem Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Der Ablauf der Tat
Erst im Nachhinein wird öffentlich, was am Nachmittag des 14. September 2009 in Velbert-Neviges passiert ist. Der Täter war ein Freund von Kassandras Bruder. Bei einem gemeinsamen Treffen der Drei war eine Zigarette auf der Hand des Mädchens ausgedrückt worden.
Sie hatte das ihrer Oma erzählt. Konsequenz: Der Täter dufte nicht mehr mit Kassandras Bruder spielen - wofür er allein dem Mädchen die Schuld gab. Also passte er sie am Tattag ab, schlug auf sie ein und warf sie in den Gully.
"Das zeigt mir, dass er überhaupt nicht gelernt hat, Verantwortung für sein eigenes Handeln zu übernehmen", sagt Anja Zahlmann. "Er hat bei der Tat kein Gewissen, keine moralische Instanz für sich selbst, für sein eigenes Verhalten. Er externalisiert und sagt: Ich mache nichts falsch und gucke: Wer ist schuld?" So sei das Mädchen die Zielscheibe seiner Wut geworden.
Jahrelange Therapie
Im Urteil stellt das Wuppertaler Landgericht fest: Der Täter braucht jahrelange intensive therapeutische Behandlung. "Um eben diese Dinge zu lernen, die ihm fehlen", sagt Zahlmann, "nämlich zum einen Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen und zum anderen aber auch Empathie zu entwickeln für andere Menschen. Daneben wäre natürlich wünschenswert, dass er auch ein gutes Selbstwertgefühl aufbauen könnte und nicht weiter ängstlich und verunsichert durch die Welt geht." Das Projekt "Kurve kriegen" in NRW will Jugendliche vor einem Abrutschen in die Kriminalität bewahren.
Was bleibt vom Fall Kassandra?
Fünf Jahre nach der Tat tritt Kassandras Familie ein letztes Mal in die Öffentlichkeit, als die Eltern dem WDR exklusiv ein Interview geben. Wichtigste Frage damals natürlich: Wie geht es der jetzt 14-Jährigen?
Kassandras Eltern, zu ihrem Schutz haben wir sie unkenntlich gemacht
"Sie fragen mich jetzt ernsthaft, ob ein pubertierendes Mädchen glücklich ist?", sagt Kassandras Mutter damals lachend. "Sie ist halt einfach ein junges Mädchen, mit all ihren Facetten, wie jedes andere Mädchen auch." Weil sie so häufig im Krankenhaus war, wolle sie Kinderkrankenschwester werden.
Über dieses Thema haben wir am 21.11.2023 auch im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit Bergisches Land, 19.30 Uhr.