Das rekonstruierte Gesicht der Frauenleiche aus Altena

Die tote Frau aus Altena: Wie funktioniert eine Gesichtsrekonstruktion?

Märkischer Kreis | Verbrechen

Stand: 10.07.2023, 17:01 Uhr

1997 wird in Altena eine Frauenleiche mit kaum erkennbarem Gesicht gefunden. Der Fall bleibt ungelöst. Mit einer neuen Gesichtsrekonstruktion wird jetzt erneut nach Hinweisen gesucht. Wie funktioniert diese Technik? Eine Expertin erklärt es.

Von Hamzi Ismail

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Der Fall: Die tote Frau aus Altena

Es ist der 2. Juni 1997 als ein Motorradfahrer in einem Waldstück in Bergfeld, einem Stadtteil von Altena, die Leiche einer jungen Frau findet. Sie ist komplett entkleidet, ihre Beine gespreizt, um ihren Hals kleben Reste eines Nylon-Strumpfes. Die Frauenleiche ist verkohlt, ihr Gesicht kaum wieder zu erkennen. Sie wurde verbrannt. Die Obduktion der Rechtsmedizin wird später feststellen, dass das Opfer zuerst vergewaltigt und gewürgt, dann mit Benzin übergossen und in Brand gesetzt wurde. Die Tatsache, dass in der Lunge Reste von Ruß gefunden werden, lässt den Rückschluss zu, dass die junge Frau noch gelebt haben muss, als sie verbrannt wurde.

Bis heute ist die Identität der Toten ungeklärt. Die Polizei vermutet, sie könnte aus dem europäischen Ausland stammen und auf der Durchreise gewesen sein. Auch der oder die Täter sind nach 25 Jahren noch immer unbekannt. DNA-Spuren im Intimbereich des Opfers lassen aber den Schluss zu, dass der Vater an der Tat beteiligt gewesen sein muss. Ob er seine Tochter auch umgebracht hat oder ob es noch weitere Tatbeteiligte gibt, ist bislang unklar. Um der jungen Frau ein Gesicht zu geben, veranlasst die Polizei Hagen 1998 eine Gesichtsweichteil-Rekonstruktion. Ohne Fahndungserfolg.

Im Rahmen der Kampagne „Identify me“ von Interpol, bei der 22 lang zurückliegende Frauenmorde in Deutschland, Belgien und in den Niederlanden neu aufgerollt werden, haben die Ermittelnden jetzt mithilfe modernster Technik eine neue Gesichtsweichteil-Rekonstruktion der Toten aus Altena erstellen lassen. Derzeit warten die Ermittler auf neue Hinweise zur Identität.

Den ganzen Fall "Die nicht-identifizierte Frauenleiche von Altena-Bergfeld" gibt es bei "Lokalzeit MordOrte".

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Interview: Wie ein Gesicht rekonstruiert wird

Steffi Burrath arbeitet als Gesichts-Rekonstrukteurin beim Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt. An der Gesichtsrekonstruktion der Leiche aus Altena-Bergfeld war sie nicht beteiligt. Als eine der wenigen Experten auf diesem Gebiet in Deutschland, hat sie aber Antworten auf die wichtigsten Fragen zu dem Verfahren.

Lokalzeit: Frau Burrath, in Deutschland gibt es ja kaum Erfahrungen im Feld der Gesichtsweichteil-Rekonstruktion. Wie kamen Sie zu Ihrer Expertise?

Steffi Burrath: Ja, das stimmt. Es gibt nur eine Handvoll Leute, die sich damit beschäftigen. Ich habe meine Ausbildung beim FBI gemacht und dort auch diese Methode gelernt.

Lokalzeit: Wie funktioniert eine Gesichtsrekonstruktion?

Burrath: Sie wird anhand des Schädels des unbekannten Toten erarbeitet - in diesem Fall von der jungen Frau. Aus Unterlagen wie dem Obduktionsbericht, entnimmt der Rekonstrukteur wie alt, wie groß, wie dick oder dünn die Person war. Dann wird die Dicke von Gewebe, Muskulatur und Fetten ermittelt. Das sind die sogenannten Weichteilhöhen. Man nutzt dafür wissenschaftlich erhobener Durchschnittswerte zum Beispiel für eine jüngere, schlanke Frau wie im aktuellen Fall. Im nächsten Schritt werden diese Weichteilstärken als Stifte geschnitten und auf den Schädel aufgeklebt. Das obere Ende dieser Stifte zeigt, wo früher mal die Haut gesessen hat.

Steffi Burrath vom Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt

Steffi Burrath vom Landeskriminalamt Sachsen-Anhalt ist eine der wenigen Expertinnen für Gesichtsweichteil-Rekonstruktion in Deutschland

Lokalzeit: Können Sie das mit den Weichteilstärken näher erklären?

Burrath: Auf einem Schädel steckt man zwischen 28 und 34 Punkte ab. Jeder einzelne dieser Stifte zeigt für die jeweilige Stelle im Gesicht den Abstand zwischen Knochen und Hautoberfläche. Ein Beispiel: auf der Nase ist nur sehr wenig Haut, man fühlt das auch an sich selbst. Dort ist es sehr hart, demnach ist die Weichteilmarke nicht sehr hoch. Anders ist es an der Wange, da haben wir mehr Haut und Untergewebe, also mehr Weichteilstärke. Die Stifte zeigen, wo und wie stark das Hautgewebe an den entsprechenden Stellen des Gesichts sein muss.

Auf dem Modell eines Schädels stecken mehrere Stifte

Ein Schädel wird mit bis zu 34 Stiften markiert

Lokalzeit: Wie gehen Sie dann weiter vor, um ein Gesicht zu rekonstruieren?

Burrath: Es gibt verschiedene Methoden ein Gesicht zu rekonstruieren. Ich bevorzuge die zeichnerische Rekonstruktion per Bleistift. Das heißt, ich fotografiere den Schädel mit den aufgeklebten Weichteilmarken mit einem Maßstab, drucke das Foto aus, lege Transparentpapier darüber und zeichne dann die Umrisse sowie die ganzen Gegebenheiten des Gesichts. Ich kann mir den Schädel nebenbei immer wieder angucken, alles abtasten und prüfen. Ob zum Beispiel irgendetwas asymmetrisch im Gesicht ist oder ob es besondere Merkmale wie Stirnhöcker gibt.

Lokalzeit: Dann fehlen aber noch die Haare.

Burrath: Genau. Es entsteht ein Gesicht, dem noch Haare, Augenbrauen, eventuell Bart und Altersmerkmale wie Falten gegeben werden müssen. Oftmals entstehen auch verschiedene Zeichnungen der Opfer, wenn man zum Beispiel nicht weiß, welche Frisur eine Person hatte. Als Rekonstrukteurin bringe ich bei der Gestaltung der Haare, Augenbrauen oder Mimik meine Fantasie in die Zeichnung mit ein, während die Proportionen des Gesichtes exakt durch den Knochenbau des Schädels vorgegeben werden.

Lokalzeit: Wenn man sich die alte Gesichtsrekonstruktion der nicht-identifizierten Bergfeld-Leiche ansieht, dann gibt es vier Bilder mit unterschiedlichen Frisuren. Wieso?

Burrath: Frisuren verändern ein Erscheinungsbild sehr, sehr stark. Und wenn die gewählte Frisur nicht richtig zu der Person passt, die gesucht wird, dann kann es sein, dass keiner sie wiedererkennt. Eine gesuchte Person kann lockige oder glatte, kurze oder lange Haare gehabt haben. Aus diesem Grund gibt es oftmals Gesichtsweichteil-Rekonstruktionen, denen man verschiedene Frisuren aufsetzt.

Das rekonstruierte Gesicht der Frauenleiche aus Altena

So könnte das Mordopfer vor seinem Tod ausgesehen haben

Stand der Ermittlungen im Fall der Toten von Altena

Die Rekonstruktion der Bergfeld-Leiche wurde nicht von Steffi Burrath, sondern von Interpol gemacht. Das Foto der neuen Gesichtsrekonstruktion ist seitens des BKA und der Polizei Hagen im Mai 2023 im Rahmen der „Identify me“-Kampagne veröffentlicht worden. Derzeit warten die Ermittler, ob das Bild zu neuen Hinweisen führt, die die Identität der Leiche aufklären können.

Lokalzeit: Wie stark hat sich die Technik auf dem Gebiet der Gesichtsrekonstruktion in den letzten 20 bis 30 Jahren weiterentwickelt?

Burrath: Das Grundprinzip hat sich nicht stark verändert. Natürlich sind neue Techniken hinzugekommen. Wir können heute mithilfe von 3D oder dem Einscannen eines Schädels am Computer rekonstruieren. Doch ganz gleich, ob das Ergebnis eine Handzeichnung ist, aus Fototeilen zusammengesetzt ist, ob mit Knete modelliert oder 3D am Computer gearbeitet wird: alle Methoden haben ihr Für und Wider. Wenn exakt gearbeitet wird, stellen letztlich alle Methoden dieselben Gesichtsproportionen dar.

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Wann eine Gesichtsrekonstruktion sinnvoll ist

Lokalzeit: In welchen Fällen wird eine Gesichtsrekonstruktion überhaupt gemacht?

Burrath: Sie erfolgt eigentlich nur in den Fällen, wo alle anderen Ermittlungsmethoden zu keinem Ergebnis geführt haben. Nachdem eine Person bei der Polizei als vermisst gemeldet wird, schauen die Ermittelnden in der Datenbank nach, ob dazu eine tote Person gefunden werden kann. Wenn ja, wird geprüft, ob man sie identifizieren kann und meistens klappt das auch. Nur in den seltensten Fällen, wenn kein passender Vermisster gefunden wird, man absolut keine Anhaltspunkte zur Person hat und einfach nicht mehr weiterkommt, da wird auf eine Gesichtsrekonstruktion zurückgegriffen.

Lokalzeit: Wie lange dauert die Erstellung ungefähr?

Burrath: Also für meine Methode mit der Handzeichnung brauche ich etwa vier bis fünf Tage. Am ersten Tag bin ich meistens nur mit Recherche beschäftigt. Ich studiere Fotos vom Fundort der Leiche und von der Obduktion. Manchmal erkennt man darauf noch Reste von Haaren oder Augenbrauen, also wichtige Anhaltspunkte, die ich mit einfließen lassen kann. Danach lese ich mir alle Berichte und Unterlagen durch und mache mir ein eigenes Protokoll mit den wichtigsten Angaben, die ich zum Zeichnen benötige. Am zweiten und dritten Tag findet die Handzeichnung statt. Am vierten und fünften Tag werden die Feinarbeiten gemacht. Haare aufgesetzt, verschiedene Frisuren herausgesucht, der Sitz der Augen, Nase und des Mundes noch einmal genau geprüft und so weiter. Das Ganze wird abschließend digital in der Bildbearbeitung überarbeitet und optimiert.

Lokalzeit: Bei wie vielen Fällen konnten Ihre Gesichtsrekonstruktionen helfen, dass ein Opfer identifiziert oder ein Fall gelöst wurde?

Burrath: Ich habe knapp 50 Rekonstruktionen angefertigt, davon konnte ein Drittel identifiziert werden. Allerdings lag das nicht immer nur an meiner Gesichts- Rekonstruktion, sondern teilweise war es ein Zusammenspiel aus mehreren Ermittlungsmethoden. Es ist auch ein bisschen Glückssache, ob man zum Beispiel die richtigen Haare getroffen hat und die gesuchte Person damit so aussieht wie eine Portraitzeichnung. Dann ist es natürlich viel einfacher die- oder denjenigen wiederzufinden. Bei den bisher nicht identifizierbaren Gesichtern handelt es sich oftmals um Personen, von denen die Polizei ausgeht, dass sie Obdachlose sind oder aus dem Ausland stammen. Das macht es umso schwieriger Angehörige zu finden, da wir zum Beispiel nicht wissen, in welchem Land wir fahnden müssen.

Lokalzeit: Wieso gibt es auf dem Feld der Gesichtsrekonstruktion in Deutschland so wenig Expertise?

Burrath: Es sind zwar wenig Leute, die sich damit beschäftigen, aber das liegt vielleicht auch daran, dass die meisten Toten glücklicherweise über andere Ermittlungsmethoden identifiziert werden können und wir gar nicht so viele unbekannte Tote haben, für die wir Rekonstruktionen benötigen. Daher braucht man auch kein großes Heer an Rekonstrukteuren.

Lokalzeit: Seit wann gibt es diese Methode der Gesichtsrekonstruktion? Und wie hat man davor gearbeitet? Entstellte oder schwer identifizierbare Leichen gab es ja vermutlich schon immer.

Burrath: So um 1900 haben sich die ersten Leute damit beschäftigt. Damals wurde versucht von berühmten Persönlichkeiten Büsten zu erstellen, zum Beispiel von Friedrich Schiller. Man wollte feststellen, ob derjenige, der tot im Grab liegt auch wirklich der ist, der da drinnen liegen sollte. Damals waren es Anthropologen und Bildhauer, die dafür zusammengearbeitet haben. Aber für polizeiliche Zwecke wird die Gesichtsweichteil-Rekonstruktion seit etwa 1950 genutzt.