Gewalt unter Jugendlichen

Ohne Zwang: Wie "Kurve kriegen" kriminellen Jugendlichen in NRW helfen will

Gelsenkirchen | Verbrechen

Stand: 18.12.2023, 14:23 Uhr

Zuhören, Probleme lösen, Alternativen schaffen. So will die Initiative "Kurve kriegen" Jugendliche vor dem Abrutschen in die Kriminalität bewahren. Wie die Teams arbeiten, welche Rolle die Familien der Jugendlichen spielen und wo die Initiative an Grenzen stößt.

Von Stefan Weisemann

Wenden im Sauerland, Oktober 2018: Ein 14-Jähriger erwürgt einen 16-jährigen Mitschüler in der Nähe der Schule. Das vermutete Motiv ist nicht erwiderte Liebe. Ein besonders dramatischer Fall von Jugendkriminalität. In einer Sonderfolge von WDR Lokalzeit Mordorte zeigen wir, was mit Jugendlichen passiert, die getötet oder andere schwere Straftaten begangen haben. Unter anderem gibt es Einblicke in den Alltag in der Forensik der LVR-Klinik in Viersen.

Klar ist: Ein Mord begangen von einem Kind oder Jugendlichen ist eine absolute Ausnahme. Alltäglich ist es dagegen, dass Kinder und Jugendliche mit Straftaten auffallen - mal mehr, mal weniger ausgeprägt. Zuletzt sind die Zahlen deutlich angestiegen. So gab es bei den unter 14-Jährigen laut Landeskriminalamt NRW 2022 einen Anstieg der Tatverdächtigen um rund 40 Prozent. Längerfristig gesehen sind die Zahlen im Bereich von Kinder- und Jugendkriminalität allerdings zurückgegangen.

Hier setzt die Initiative "Kurve kriegen" des NRW-Innenministeriums an. Das Ziel ist es, frühzeitig zu erkennen, wenn Kinder und Jugendliche auf die schiefe Bahn geraten und zu Intensivtätern werden könnten. Und dann alles Mögliche tun, um eine größere kriminelle Karriere zu verhindern.

Polizei wählt Kandidaten für "Kurve kriegen" aus

"Den klassischen Kaugummi-Diebstahl hat wohl fast jeder Jugendliche irgendwann mal begangen", sagt Kriminalhauptkommissar Thomas Bartella aus dem Team von "Kurve kriegen" bei der Polizei Gelsenkirchen. "Bei den Allermeisten schläft das aber schnell wieder ein." Kein Grund zur Sorge also, dass daraus direkt eine große kriminelle Karriere werden könnte.

Häufen sich die kleineren und größeren Straftaten allerdings, dann ist laut dem Experten genaueres Hinschauen gefragt. Oft schlagen in solchen Fällen das Jugendamt oder die Schule Alarm. Die Polizei prüft dann, ob der junge Straftäter ein Kandidat für "Kurve kriegen" sein könnte.

Die Initiative "Kurve kriegen"

Das NRW-Innenministerium hat "Kurve kriegen" 2011 ins Leben gerufen. Die Initiative soll besonders kriminalitätsgefährdete Kinder und Jugendliche vor dem Abrutschen in die dauerhafte Kriminalität bewahren. Beteiligt sind 40 Polizeibehörden und rund 300 Kommunen in NRW. Die Teams bestehen aus Polizisten und pädagogischen Fachkräften. Laut Innenministerium haben bisher mehr als 1000 Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 17 Jahren das Programm erfolgreich absolviert. 80 Prozent von ihnen würden tatsächlich die "Kurve kriegen".

Die Experten müssen schließlich einschätzen, ob die Jugendlichen möglicherweise in einer schwierigen Phase stecken, und das Verhalten deshalb eventuell nicht anhält, oder, ob sie doch dauerhaft in die Kriminalität abzurutschen drohen. Als grundsätzliches Kriterium gilt: Mögliche Kandidaten für "Kurve kriegen" sind Kinder und Jugendliche, die mit drei Eigentumsdelikten oder einer Gewalttat aufgefallen sind. Auch das soziale Umfeld fließt in die Beurteilung mit ein. Fällt ein Jugendlicher schon als Intensivtäter auf, ist es für "Kurve kriegen" dagegen zu spät. Hier müssen andere Maßnahmen her.

Ganz entscheidend: Freiwilligkeit

Wird ein Jugendlicher für "Kurve kriegen" ausgewählt, werden direkt die Eltern mit einbezogen. Alles beruht auf "absoluter Freiwilligkeit" der Jugendlichen und ihrer Familien, sagt Bartella, "wer keinen Bock hat, kann nicht mitmachen". Vor Kurzem gab es einen Jugendlichen, der nicht zu den vereinbarten Terminen erschienen ist. Nach einigen Monaten hat das Team den Fall aufgegeben: "Das einzige Mal, dass wir so frühzeitig abbrechen mussten."

Von links nach rechts: Thomas Bartella, Karen Spatz, Akin Sat

Team-Mitglieder von "Kurve kriegen" in Gelsenkirchen: Thomas Bartella, Karen Spatz, Akın Şat (v. l.)

"Die Freiwilligkeit ist für uns Gold wert", sagt auch Akın Şat. Er arbeitet als pädagogische Fachkraft bei "Kurve kriegen" in Gelsenkirchen und sitzt mit im Polizeipräsidium. Seine erste Aufgabe: Die Hintergründe und Familien der Jugendlichen kennenlernen und Vertrauen aufbauen. Jeder Fall ist zwar anders, Şat sieht aber immer wieder ähnliche Probleme: "Bei vielen erkennen wir soziale Benachteiligung, finanzielle Probleme und eine fehlende Bindung innerhalb des Elternhauses".

"Kurve kriegen" hat Grenzen

Nach dem Kennenlernen folgt Phase zwei: die konkrete Hilfe. In Gelsenkirchen betreut "Kurve kriegen" 25 Kinder und Jugendliche. So unterschiedlich sie sind, so unterschiedlich sind auch die möglichen Maßnahmen, um sie wieder auf die richtige Spur zu bringen. Wer große Probleme mit Aggressionen hat, bekommt ein Anti-Aggressionstraining. Wer große Probleme in der Schule hat, bekommt Nachhilfe. Der Instrumentenkasten ist groß, die Schritte oft klein.

"Wir arbeiten zum Beispiel an neuen sozialen Kontakten, suchen gemeinsam eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung", erklärt Sozialpädagoge Şat. Um am Ende nach Monaten oder Jahren im besten Fall das große Ziel zu erreichen: ein Leben ohne Straftaten.

Das gelingt nicht immer. "Grundsätzlich kann zum Beispiel die Dynamik in einer Gruppe auch nach Abschluss des Programms zu Straftaten führen", erklärt Polizist Bartella. Das Stichwort ist falsche Freunde. Auch der Einfluss der Familien spielt eine entscheidende Rolle: "Wenn ein Jugendlicher bei älteren Brüdern mitbekommt, dass Kriminalität lukrativ sein kann, wird es schwierig." 1.072 Kinder und Jugendliche haben das Programm bislang vollständig durchlaufen.

Initiative kann Leben verändern

Die Tendenz ist in Gelsenkirchen und auch NRW-weit: Wer bei "Kurve kriegen" mitmacht, fällt währenddessen und danach seltener und oftmals auch gar nicht mehr mit Straftaten auf. Nach eigenen Angaben halten 80 Prozent der Teilnehmenden durch und ändern ihr Leben. Eine wissenschaftliche Studie aus dem Jahr 2016 bescheinigt der Initiative außerdem ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis. Die Kernaussage: Lieber jetzt Geld für Prävention ausgeben, als später zum Beispiel teure Gerichtsprozesse oder die Behandlung von Opfern von Gewaltverbrechen bezahlen zu müssen.

Sozialpädagoge Şat hat erlebt, wie die Initiative das Leben der Jugendlichen im besten Fall komplett verändern kann. "Viele sagen, dass sie durch unsere Unterstützung viel erreicht haben, einige haben zum Beispiel noch Abi oder Fachabi gemacht", berichtet er. Und er spürt auch nachhaltig den Erfolg seiner Arbeit: "Auch nach dem Ende des Programms rufen manche nochmal an und fragen um Rat."