Kriminalfälle aus NRW: 8,5 Jahre unschuldig im Gefängnis
Stand: 19.10.2023, 15:16 Uhr
In der Nähe einer Mindener Grundschule wird der leblose Körper einer 18-Jährigen gefunden. Ins Gefängnis muss ein Mann, dessen Unschuld erst viele Jahre später bewiesen werden kann.
Von Helena Kaufmann
Es ist der 22.02.1994, als Richard S. um 9.30 Uhr die JVA Bielefeld-Brackwede als freier Mann verlässt. Fast ein ganzes Jahrzehnt hat er "ununterbrochen hinter vier Wänden" verbracht, wie er den vielen Medienvertretenden vor Ort erzählt. Glücklich und erleichtert wirkt der groß gewachsene Waliser, denn seine Unschuld konnte endlich bewiesen werden.
Eine Nacht, zwei Opfer
Es ist der Abend vor Fronleichnam 1985, als Sabine R. mit ihrer Freundin im "Sir Henry" in Minden-Lübbecke feiern will. Wegen des Feiertages muss die Gymnasiastin am nächsten Tag nicht zur Schule und kann an dem Abend ausgelassen feiern. Die 18-Jährige ist eine gute Schülerin und kommt aus einem konservativen Elternhaus.
Ein unkenntlich gemachtes Passfoto von Sabine R.
Im "Sir Henry" lernen sich Sabine R. und Richard S. kennen. Er ist 25 Jahre alt, gebürtiger Waliser und arbeitet bei der britischen Rheinarmee als Fahrer. Die beiden kommen sich näher, verbringen den Abend zusammen. Richard S., Sabine R. und ihre Freundin verlassen die Disco in der Nacht gemeinsam. Gegen 3.30 Uhr verabschieden sich die beiden Freundinnen voneinander. Sabine R. und Richard S. bleiben zusammen, weil er versprochen hat, sie nach Hause zu bringen. Was dann genau passiert, kann oder will bis heute niemand sagen.
Die Eltern von Sabine R. bemerken am Morgen, dass ihre Tochter in der Nacht nicht nach Hause gekommen ist. Erst suchen sie nach ihr, dann schalten sie die Polizei ein. Gegen 11 Uhr überbringt die Polizei dann die Nachricht: Sabine R. wurde in einem Gebüsch neben einer Grundschule gefunden. Nur wenige Hundert Meter von dem Ort entfernt, an dem sie sich von ihrer Freundin verabschiedet hat. Die junge Frau wurde vergewaltigt und erwürgt.
Für eine Gegenüberstellung muss Sabine R.s Freundin in die britische Kaserne und erkennt Richard S., mit dem das spätere Opfer den Abend verbracht hatte. Richard S. bestreitet die Tat. Er wird es auch noch später vor Gericht tun.
Warum hält das Gericht Richard S. für den Mörder?
Die Gewalttat sei für Richard S. nicht wesensfremd gewesen, da er zwei Monate vor der schicksalhaften Nacht versucht hatte, eine andere Frau zu vergewaltigen, wird das Gericht urteilen. Außerdem wurde er als Letzter mit Sabine R. gesehen. An seinem Körper wurden Baumwollfasern von der 18-Jährigen und Kratzspuren gefunden, die als Abwehrverletzungen gedeutet wurden. Eine Blutgruppenuntersuchung der Spermien wurde unternommen und die festgestellten Merkmale konnten den Soldaten als Täter nicht ausschließen.
Neue DNA-Technik
Im Gefängnis schreibt Richard S. 97 Anwälten und bittet um Hilfe. 96 nehmen den Fall nicht an, Peter Wüllner lässt sich die Akten kommen und glaubt die Unschuld von S.. 1992, als Wüllner den Fall annimmt, fordert er eine DNA-Analyse an. Eine Technik, die bei Richard S. ersten Prozess, Jahre zuvor, gerichtlich nicht verwertbar war und die damals noch in den Kinderschuhen steckte. Das Ergebnis dieser Untersuchung wird S. aus dem Gefängnis holen. Eindeutig kann nachgewiesen werden, dass das bei dem Opfer gefundene Sperma nicht von Richard S. stammt.
Auszug aus dem Laborbericht
Und auch für andere Indizien hat Wüllner eine Erklärung. Die Kratzspuren, die als Abwehrspuren interpretiert wurden, sind entstanden als der Soldat sich selbst gekratzt hat. Er leide an einer Nylonallergie und sein Körper fing an zu jucken, als er im Dienst Fallschirme zusammengefaltet hat. Die Textilspuren ließen sich durch den engen Körperkontakt zwischen Richard S. und der Getöteten erklären, den der Waliser nie bestritten hatte.
Das Wiederaufnahmeverfahren
Richard S. saß 8,5 Jahre im Gefängnis. Es dauert noch weitere acht Jahre, bis sein Wiederaufnahmeverfahren beginnt. Der Freispruch erfolgt 2002 nach dem juristischen Grundsatz: Im Zweifel für den Angeklagten. Eine Täterschaft konnte das Gericht Richard S. nicht nachweisen.
Richard S. in Begleitung seines Anwalts Peter Wüllner
Für den Justizfehler wird Richard S. mit 18.000 Euro entschädigt. Mittlerweile hat sich der Tagessatz für Justizopfer erhöht: Sie erhalten 75 Euro pro angefangenen Tag des Freiheitsentzuges. Der Mord an Sabine R. bleibt weiterhin ein Cold-Case.