SYMBOLBILD - Jugendlicher schlägt auf einen anderen am Boden liegenden Jugendlichen ein, ein zweiter tritt zu

Wie kommt es zu schweren Gewaltverbrechen von Jugendlichen?

Coesfeld | Verbrechen

Stand: 28.08.2023, 17:04 Uhr

Aus Rache für eine angebliche Vergewaltigung sollen drei Jugendliche aus Lüdinghausen bei Münster versucht haben, einen 19-Jährigen zu ermorden. Wie kommt es dazu, dass Jugendliche so schwere Gewaltverbrechen verüben? Kriminalpsychologin Lydia Benecke gibt Antworten.

Von Hamzi Ismail

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Was 2016 geschah

Wie konnte es zu dieser brutalen Tat kommen? Das beschäftigte im Jahr 2016 nicht nur Lüdinghausen, eine Kleinstadt südwestlich von Münster, sondern auch das Gericht und psychologische Sachverständige. Die Tat ereignete sich am späten Abend des 28. Mai 2016. Drei befreundete Jugendliche im Alter zwischen 17 und 19 lockten einen 19-Jährigen in einen Hinterhalt am Dortmund-Ems-Kanal bei Lüdinghausen.

Sie schlugen, quälten und folterten ihn. Im Mittelpunkt steht Jessica, die ihrem festen Freund Marco und ihrem besten Kumpel Tobi vortäuscht, von Jonas - einem Mann, den sie über eine Dating-Plattform kennenlernt - vergewaltigt worden zu sein. Was die beiden nicht wissen: Das ist gelogen. Der Sex zwischen ihr und Jonas war freiwillig, im Vorfeld sogar per Chat genauestens verabredet worden. Jessica empfindet Scham, hat Angst, dafür verurteilt zu werden und davor ihre Beziehung zu Marco und die Freundschaft zu Tobi aufs Spiel zu setzen. Also erfindet die Schülerin die Vergewaltigung. Die beiden Jungen glauben dem Mädchen, in das beide verliebt sind.

Zu dritt schmiedeten sie einen hinterhältigen Racheplan, um dem vermeintlichen Vergewaltiger Jonas eine "Abreibung" zu verpassen. Über drei Stunden wird er mit mitgebrachtem Werkzeug des Trios fast zu Tode gefoltert. Heraneilende Angler hören Hilferufe, woraufhin die drei Freunde von ihrem Opfer ablassen und vom Tatort fliehen. Jonas überlebt schwerstverletzt und nur durch großes Glück.

Mehr zum Fall bei Lokalzeit MordOrte

Den ganzen Fall "Versuchter Foltermord von Lüdinghausen" gibt es bei der WDR-YouTube-Serie "Lokalzeit MordOrte" zu sehen.

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Wie es dazu kommt, dass Jugendliche zu Gewalttätern werden

Unser Autor Hamzi Ismail hat mit Kriminalpsychologin Lydia Benecke über den Fall gesprochen.

Lokalzeit: Kann die Pubertät das Gewaltverhalten von Jugendlichen und Heranwachsenden erklären?

Lydia Benecke: Das Gehirn befindet sich während der Pubertät in einem starken Veränderungsprozess. Dabei entwickeln sich manche Hirnbereiche schneller als andere. Dies zeigt sich in den Besonderheiten, die als typisch für die Pubertät gelten: Emotionen werden besonders intensiv erlebt und schwanken abrupt. Jugendliche reagieren häufiger wütend oder ängstlich. Stärker als Erwachsene neigen sie dazu, Entscheidungen auf der Grundlage ihrer aktuellen Gefühle zu treffen und dabei wenig vernunftorientiert abzuwägen. Sie suchen Kicks, werden risikobereiter und impulsiver. Die Meinung anderer über sie wird zunehmend relevant, was dazu beiträgt, dass Jugendliche sich besonders in Gruppen zu negativen und riskanten Verhaltensweisen hinreißen lassen.

Lokalzeit: Das gilt ja aber für alle Jugendliche und macht sie dennoch nicht zu Gewalttätern.

Benecke: Das ist richtig. Häufiger findet man im Jugendalter Delikte wie kleinere Diebstähle oder Schwarzfahren. Auch Sachbeschädigungen, Verkehrsdelikte sowie fahrlässige- und leichte Körperverletzungsdelikte kommen dann nicht selten vor. Meistens finden die Körperverletzungsdelikte, typisch sind hier Schlägereien, zwischen Gleichaltrigen statt und resultieren aus einer akuten Konfliktsituation kombiniert mit jugendtypischem Imponiergehabe. Tötungsdelikte werden hauptsächlich von Erwachsenen begangen. Dennoch gibt es Fälle, in denen die Besonderheiten dieser Entwicklungsphase im Zusammenspiel mit anderen Faktoren dazu beitragen können, dass schwere Gewaltdelikte begangen werden.

Lydia Benecke, Kriminalpsychologin

Lydia Benecke, Kriminalpsychologin

Lokalzeit: Wie ist die vorliegende Tat der drei Angeklagten kriminalpsychologisch einzuordnen? Wie konnte es überhaupt so weit kommen?

Benecke: In diesem Fall muss man die komplexe Dynamik zwischen den drei Jugendlichen beleuchten. Die zum Tatzeitpunkt 17-jährige Jessica war mit dem gleichaltrigen Marco vor der Tat etwa ein Jahr lang zusammen. Marcos Leben und seine Persönlichkeitsentwicklung werden im Gerichtsurteil als insgesamt unauffällig beschrieben. Er war nie ein Außenseiter, jedoch in sozialen Situationen und besonders Mädchen gegenüber eher schüchtern. Die Partnerschaft mit Jessica war für Marco wichtig, weil er sich schon länger eine Beziehung gewünscht hatte, und er dadurch Selbstsicherheit gewann. Die beiden trennten sich, kamen wieder zusammen und trennten sich neun Tage vor der Tat erneut. Sie waren aber unglücklich damit - ohne das anzusprechen. Stattdessen suchte Jessica eine Dating-Plattform auf, um sich so von ihrem Liebeskummer abzulenken. Dabei lernte sie das spätere Tatopfer Jonas kennen. Der 19-jährige Tobi war zu diesem Zeitpunkt Jessicas bester Freund, aber eigentlich heimlich in sie verliebt.

Lokalzeit: Und was ist über Tobi bekannt?

Benecke: Tobi hatte sich in seiner Familie ungeliebt und missachtet gefühlt. Während seiner Schulzeit wurde er von Gleichaltrigen gehänselt. Er wünschte sich eine Beziehung, machte aber mehrfach die Erfahrung, dass gleichaltrige Mädchen nur an einer Freundschaft mit ihm interessiert waren. Laut Gutachten wies er zum Tatzeitpunkt ängstlich-vermeidende Persönlichkeitszüge auf. Das bedeutet, er war schüchtern und fürchtete, abgewertet und zurückgewiesen zu werden, wobei er sich nach Akzeptanz und Zuneigung sehnte. Somit war er immer für Jessica da und sehr bemüht, ihr stets zu zeigen, dass er alles für sie tun würde.

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Warum erfindet eine 17-Jährige eine Vergewaltigung?

Lokalzeit: Ausgangspunkt für die Tat war ja aber die Lüge von Jessica.

Benecke: Ja. Jessica ist ohne Vater aufgewachsen und hatte während ihrer Schulzeit eine Zeit lang Mobbing erlebt, doch insgesamt wird ihre Persönlichkeitsentwicklung als nicht sonderlich auffällig beschrieben. Allerdings heißt es, sie neige dazu, Dinge zu dramatisieren und dabei übermäßig emotional auszudrücken. Dies spielte bei der weiteren Entwicklung eine Rolle.

Lokalzeit: Inwiefern?

Benecke: Kurz nachdem Jessica mit Jonas über die Dating-Plattform in Kontakt gekommen war, schrieben die beiden konkret über ihre jeweiligen sexuellen Erfahrungen und Wünsche. Jessica sagte genau, welche sexuellen Handlungen sie bei einem Treffen mit Jonas gerne durchführen wollte. Zwei Tage später trafen sich die beiden und es kam zu den besprochenen Handlungen. Jessica merkte allerdings unmittelbar danach, dass sie sich durch den Sex mit Jonas nicht von ihrem Liebeskummer abgelenkt fühlte. Noch während Jonas mit ihr in ihrer Wohnung etwas aß, schrieb sie Tobi, sie sei von sich enttäuscht, weil sie mit jemandem, den sie online kennengelernt habe, "rumhure". Auf dessen Frage, was sie machen würden, antwortete Jessica: "Was machen wir wohl", gefolgt von einem Smiley. Kurz darauf schrieb sie Marco, dass sie von sich enttäuscht sei, weil sie "zur Schlampe geworden" sei, um ihn aus ihrem Kopf zu kriegen, was allerdings nicht geholfen habe.

Lokalzeit: Aber warum erfindet eine junge Frau wie Jessica, grade mal 17 Jahre alt, eine Vergewaltigung?

Benecke: Offenbar wurde Jessica in dieser Situation klar, dass sie sich eigentlich die Beziehung zu Marco zurückwünschte. Sie musste aber davon ausgehen, dass das nicht klappen würde, wenn er von ihrer Verabredung zum Sex erfahren würde. Um Marco wiederzugewinnen, stellte Jessica die Situation zunächst anders dar. Sie tat so, als werde sie von Jonas sexuell bedrängt und habe Angst vor ihm. Mit Erfolg: Marco machte sich sofort auf den Weg zu ihr und Jonas. Jonas ging nach einem kurzen Streit, und Marco tröstete sie. In dieser Situation kamen die beiden erneut zusammen. Damit die Lüge nicht auffliegen würde, musste sie Tobi nun aber auch davon überzeugen. Der war allerdings ohnehin wütend und eifersüchtig, dass sich Jessica nach der Trennung von Marco nicht für ihn interessiert hatte. In dieser Stimmung erhielt er Jessicas Bericht von der vermeintlichen Vergewaltigung, was seine Wut nochmals deutlich steigerte. Aus dieser Empfindung heraus antwortet er Jessica, dass er Jonas umbringen wolle.

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Gruppendynamik verstärkt Rachepläne

Lokalzeit: Und wie kam es zu dem konkreten Plan?

Benecke: Jessica schickte einen Screenshot ihrer Kommunikation mit Tobi über die vorgebliche Vergewaltigung an Marco. Auch dieser wurde hierauf sehr wütend. Gleichzeitig bekam er mit, dass Jessicas bester Freund mit Rache dem vermeintlichen Täter gegenüber drohte. An dieser Stelle fühlte sich Marco wahrscheinlich verpflichtet, als Jessicas Partner in der Bekundung, Jessica rächen zu wollen, nicht hinter deren bestem Freund zurückzustehen. Zusätzlich wurde er durch Tobis Reaktion darin bestärkt, dass in dieser Situation Rachefantasien zu entwickeln, vermeintlich angemessen sei. In den nächsten Tagen eskalierte die Kommunikation zwischen den drei bezüglich ihrer Rachegedanken, die zu immer konkreteren Plänen wurden. Die Gruppenkommunikation begünstigte, dass sich die drei gegenseitig immer weiter in ihren Rachevorstellungen bestärkten und keine Zweifel an diesen zuließen.

Lokalzeit: Welche Verantwortung kommt der Jessica, bei der ganzen Dynamik zu?

Benecke: Jessica wusste, dass Jonas unschuldig war, doch dies zu gestehen hätte für sie bedeuten können, Marco und Tobi zu verlieren. Hierzu war sie nicht bereit. Jessica war aber bereit für ihr Ziel, schwere Verletzungen des Opfers und sogar Jonas Tod in Kauf zu nehmen. Dies wurde im Gerichtsgutachten so erklärt: Jessicas Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen, sei vermindert gewesen. Die Befriedigung ihrer Bedürfnisse habe für sie im Vordergrund gestanden, selbst wenn einer anderen Person dadurch geschadet würde. Jessica manipulierte Marco und Tobi dazu, nicht auf sie, sondern auf Jonas wütend zu sein. Ihr Wissen, dass die beiden in sie verliebt waren und hierdurch in einer gewissen Konkurrenzsituation zueinander standen, nutzte Jessica geschickt aus. Sie war diejenige, die die Entwicklung hin zur Tat und auch noch den Verlauf der Tat mit der Wahrheit hätte aufhalten können. Dazu war sie aber nicht bereit, stattdessen verstärkte sie die Rachevorstellungen von Marco und Tobi immer weiter.

Hilfe in der Not

Beim Kinder- und Jugendtelefon können Jugendliche einfach, anonym und kostenlos montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr anrufen. Es ist unter der Nummer 116111 zu erreichen.

Auf der Homepage des Bundesfamilienministeriums sind weitere Stellen verlinkt, die Hilfe für Kinder & Jugendliche in Notlagen anbieten.