Fünf Gedenkkerzen mit den Namen der ermordeten Kinder. Meina, Leon, Sophie, Timo, Luca

Kriminalfälle aus NRW: Solingen 2020 - Eine Mutter tötet fünf ihrer Kinder

Solingen | Verbrechen

Stand: 01.06.2023, 10:57 Uhr

Im Solinger Stadtteil Hasseldelle werden im September 2020 fünf Geschwister tot aufgefunden. Die Kinder waren zwischen einem und acht Jahren alt. In den Ermittlungen stellt sich raus - die Mörderin war die eigene Mutter.

Von Wolfram Lumpe

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Wie ein einziges Kind überleben konnte

Christiane K. ist 27 Jahre alt, als sie fünf ihrer sechs Kinder umbringt. Sie betäubt sie erst, dann ertränkt oder erstickt die Solingerin sie. Timo, Sophie, Leonie, Melina und Luca, zwischen einem Jahr und acht Jahren alt, liegen in ihren Kinderbetten, als würden sie schlafen. Die Tat erschüttert nicht nur Solingen. Die ermittelnden Polizisten am Tatort verlassen weinend die Tatwohnung. Bis heute versteht niemand wirklich, wie Christiane K. zu einer solchen Tat fähig sein konnte.

Ein Online-Profilbild vom Ex-Freund der Angeklagten mit einer anderen Frau. Dieses Bild war möglicherweise der Auslöser für die Tat.

Ein Screenshot vom Profilbild, dass die Tat möglicherweise ins Rollen brachte

Zumindest der Auslöser scheint klar: Am Tattag sieht Christiane K. das neue Profilbild ihres getrenntlebenden Ehemannes. Es zeigt ihn innig mit einer anderen Frau. Das passiert gegen 7.20 Uhr am 3. September 2020. Am Mittag lebt nur noch ihr ältester Sohn, damals elf Jahre alt.

Den noch lebenden Jungen beordert sie unter einem Vorwand telefonisch aus der Schule zu sich. Es gebe einen Todesfall in der Familie, sagt sie im Sekretariat. Sie trifft ihren Sohn am Bahnhof. Beide fahren nach Düsseldorf. Unterwegs konfrontiert sie ihn damit, dass sie sich das Leben nehmen wolle. Und fragt ihn, ob er es ihr gleichtun wolle. Er verneint. Ihre Reaktion: Sie schickt den Elfjährigen mit etwas Bargeld und seiner Krankenkassen-Karte zu seiner Oma (ihrer Mutter) nach Mönchengladbach.

Zwei verwaiste Schaukeln an einem Spielplatz. Im Hintergrund ist ein mehrstöckiger Gebäudekomplex in dem sich die Wohnung der Täterin befindet. Der Plattenbau wirkt heruntergekommen.

Der Spielplatz am Wohnort der Täterin

Christiane K. selbst wirft sich in Düsseldorf vor eine einfahrende Regionalbahn. Sie stürzt so auf die Schienen, dass sie mit Glück und mehreren Verletzungen überlebt.

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Die Version der Christiane K.

Ihr Verteidiger Thomas Seifert ist sich sicher, dass K. bis heute von ihrer Unschuld überzeugt ist. Er hält es für wahrscheinlich, dass sie einen Teil ihrer Persönlichkeit abgespalten hat, um mit dem Geschehen weiterleben zu können. Sie selbst schreibt ihrer Mutter aus der Untersuchungshaft: "Unschuldig so behandelt zu werden, ist schon hart. Mir glaubt ja keiner."

K. hat eine eigene Version der Ereignisse: Am Tatmorgen sei ein Mann zu ihr gekommen, der habe sie "Nele" genannt. Kennengelernt habe sie den in einem Erotik-Portal im Internet. Der habe jetzt mit ihr abrechnen wollen. Die Kinder seien aber nicht leise gewesen und hätten gestört. Deswegen hätten sie sterben müssen. Eine Geschichte, die keinen Sinn ergibt und für die die Ermittler keinerlei Spuren finden.

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20 Verhandlungstage, kaum eine Regung

20 Verhandlungstage dauert der Prozess. Die Angeklagte zeigt kaum eine Regung. Sie weint nur kurz, zum Beispiel, als eine Sprachnachricht abgespielt wird, auf der die Stimmen ihrer lachenden Kinder zu hören sind. Sie fängt sich aber sofort wieder, Regungslosigkeit kehrt auf ihr Gesicht zurück.

Angeklagte und Mutter Christiane K. steht im Landgericht Wuppertal gemeinsam mit Verteidiger Thomas Seifert.

Angeklagte und Mutter Christiane K. im Landgericht Wuppertal gemeinsam mit Verteidiger Thomas Seifert.

Der Prozess versucht, das Unbegreifliche aufzuarbeiten. Er bringt alle im Wuppertaler Landgericht an ihre Grenzen. So als die Fotos der tot aufgefundenen Kinder gezeigt werden. Und als der etwa einstündige Notruf der Mutter der fünffachen Mörderin bei der Polizei im Gericht abgespielt wird. Mutter und Tochter hatten am Tatvormittag immer wieder Textnachrichten ausgetauscht. Als sie von der Tat und ihrer Suizid-Absicht spricht, wählt die Mutter von Christiane K. die Nummer 110.

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Das Grauen der Tat kommt per Funk

Irgendwas könnte mit den Kindern sein, ihre Tochter wolle sich etwas antun. Die Polizistin in der Leitstelle hält die Mönchengladbacherin in der Leitung, sagt, dass eine Streife zur Solinger Wohnung von Christiane K. unterwegs sei. Immer wieder fragt die Oma der getöteten Kinder weinend: "Ist jetzt jemand da? Was ist mit meinen Enkeln?"

Mit Fortdauer des Gesprächs werden Geschäftigkeit und Stimmengewirr in der Polizei-Leitstelle mehr. Das Grauen der Tat kommt per Funk ganz offensichtlich auch hier an. Der Notruf endet, als Polizisten bei der Mutter der Täterin ankommen. Das Letzte, was auf der Aufzeichnung zu hören ist, ist die Stimme eines Polizisten: "Es tut mir sehr, sehr leid."

Verteidiger Thomas Seifert sitzend im Interview.

Verteidiger Thomas Seifert: "Frau K. ist kein Monster"

Verteidiger Seifert sagt: "Es steht im Raum, dass meine Mandantin als Kind seriell sexuell missbraucht wurde." Auch sei ihr Vater nach seinen Recherchen wegen des Besitzes von Kinderpornografie rechtskräftig verurteilt worden. Ob K. auch auf den Fotos war, sei nie überprüft worden.

Was die psychologische Sachverständige aussagt

Die psychiatrischen und psychologischen Gerichtsgutachter lassen das als Erklärung für die Tat nicht gelten. Dr. Sabine Nowara, die psychologische Sachverständige, wird in ihrem Gutachten zur Täterin in ganz andere Richtung sehr deutlich. Sie attestiert Christiane K. "reduzierte Bindungsfähigkeit, emotionale Kühle und fehlende Empathie."

Sie habe sogar einen Plan gehabt, wie ihr Leben nach der Tat weitergehen solle. Und auch das gehört zum Blick auf die rechtskräftig verurteilte Kindermörderin: Ihre Biografie zeigt sie ab ihrer Jugend immer als einen Menschen, der genau das hat: einen Plan. Sechs Kinder von drei Männern. Vor der Tat war wohl ihr Ziel, ein siebtes zu bekommen. Andere Frauen hätten zu kämpfen gehabt, sie nicht. Die Wohnung war immer aufgeräumt, die Kinder gingen in Kita und Schule, der älteste Sohn galt als gut erzogen und vorbildlich.

Am Ende bleibt der überlebende Sohn zurück. "Mit einem Konglomerat an schrecklichen Empfindungen und Gefühlen", sagt der psychiatrische Psychotherapeut Stefan Ihle, der sich in seiner Praxis schon mit vielen ähnlichen Kinderschicksalen befasst hat. "Er ist einem massiven Überforderungssyndrom ausgeliefert." Irgendwann wieder zu jemandem Vertrauen aufzubauen, sei extrem wichtig. Damit er sich irgendwann mal zum Geschehen öffnen könne.

Christiane K. erhielt von der Schwurgerichtskammer des Wuppertaler Landgerichts die erwartete und schwerste Strafe, die das deutsche Recht vorsieht: lebenslange Haft mit der Feststellung der besonderen Schwere der Schuld.

Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe

Wer Suizidgedanken hat, dreht sich dabei innerlich meist im Kreis. Dadurch wirkt die Situation festgefahren, der Teufelskreis lässt sich aber durchbrechen. Anonyme und kostenlose Hilfe finden Betroffene zum Beispiel bei der Telefonseelsorge unter den Rufnummern 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 sowie 116 123. Per Chat bietet die Telefonseelsorge auf dieser Webseite Unterstützung. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention listet hier Beratungsstellen für persönliche Gespräche auf.