Kriminalfälle aus NRW: Die Geiselnahme in der Landeszentralbank Aachen
Städteregion Aachen | Verbrechen
Stand: 23.12.2024, 17:01 Uhr
1999 betritt ein Verbrecher ein Geldtransportunternehmen in Würselen. Es folgt eine mehrtägige Geiselnahme voller dramatischer Wendungen in der Landeszentralbank Aachen. 25 Jahre später blickt eines der Opfer - der Betriebsleiter des Geldtransportunternehmens - zurück.
Von Purvi Patel
Wie alles begann
Montag, 20. Dezember 1999. In einem Geldtransportunternehmen in Würselen bereiten sich mehrere Mitarbeiter auf eine ganz normale Arbeitswoche vor. Ein Kunde steht um zirka 9.30 Uhr vor der Tür, er wolle Informationen zu einem Werttransport. Der Mann ist Adnan Hodzic, ein Verbrecher. Zwei Stunden später, um 11.30 Uhr, kommt Rudolf Becker von einer Tour wieder. Er ist der Betriebsleiter des Geldtransportunternehmens in Würselen. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnt: Er wird für die nächsten 50 Stunden eine von drei Geiseln von Adnan Hodzic sein. Den ganzen Fall gibt es bei Lokalzeit MordOrte auf YouTube:
Lokalzeit: Herr Becker, was passierte, als Sie in das Gebäude gingen?
Rudolf Becker: Eine Kollegin kam den Flur runtergelaufen und sprach mich an: "Herr Becker! Herr Becker! Kommen Sie mal schnell ins hintere Büro. Da ist was passiert!" Ich dachte, es hätte sich jemand verletzt. Als ich das Büro betrat, sah ich linker Hand unsere Sekretärin und einen Kurierfahrer. Beide hatten Jacken an, an denen jeweils eine Handgranate befestigt war. Dahinter stand ein Mann, der hatte eine Maske auf, eine Wollstrumpfmaske, da kamen nur die Augen raus. In der einen Hand hatte er eine Pistole, in der anderen Hand hatte er zwei Metallschnüre. Diese Metallschnüre waren mit den Sicherungsstiften der Handgranaten verbunden. Mein Pulsschlag wurde direkt schneller.
- Eine dramatische Geiselnahme passierte 1974 auch in Hilden. Hier geht es zum Beitrag.
Lokalzeit: Was hat der Täter gefordert?
Becker: Er wollte ganz klar Geld. "Es ist im Tresorraum, hier haben wir kein Geld", antwortete ich. Doch das wollte er uns nicht glauben. Wir einigten uns dann oben im Büro, dass die Sekretärin, der Fahrer, ich und er zum Tresorraum gehen. Alle anderen Mitarbeiter wurden freigelassen. Das hat er auch ganz bewusst gesagt: "Ihr seid jetzt frei. Ihr könnt jetzt machen, was ihr wollt. Ihr könnt auch die Polizei rufen. Ich bin auf alles vorbereitet."
Er wurde 1999 zur Geisel: Rudolf Becker heute
Lokalzeit: Und was ist dann passiert?
Becker: Wir sind dann runter in die Tiefgarage. Von dort in den Tresorraum. Ich musste alle Tresore öffnen. Aber es war nur Hartgeld. Das wollte er nicht, es war auch viel zu schwer. Er fragte ganz gezielt: "Ich will das Papiergeld vom Vortag." Ich sagte, dass das nicht mehr hier ist. Das war in der Landeszentralbank, in der LZB Aachen. Er zwang uns, in einen Geldtransporter zu steigen und dorthin zu fahren. Als wir dort ankamen, durften wir in die Wagenhalle der Landeszentralbank einfahren, man kannte uns ja. Dort erbeutete der Geiselnehmer eine Million D-Mark und verstaute das Geld in zwei Reisetaschen. Die Bankmitarbeiter standen hinter Panzerglas, sie waren deshalb vor ihm geschützt und konnten später aus dem Gebäude flüchten.
Was passierte hinter den Mauern der Landeszentralbank?
Lokalzeit: Zu diesem Zeitpunkt war die Polizei längst alarmiert. Hundertschaften sicherten das Gelände rund um die Landeszentralbank weiträumig ab. Der Aachener Hauptbahnhof, Verwaltungsgebäude und Wohnhäuser wurden evakuiert. Wie hat der Geiselnehmer auf das Polizeiaufgebot reagiert?
Becker: Er wurde sehr hektisch und schoss auf die Überwachungskameras in der Halle. Das war brutal, denn er zog ja die beiden anderen immer mit den Metallschnüren hinter sich her und vielleicht hätte da etwas passieren können. Er hätte etwa aus Versehen zu stark an den Schnüren ziehen können und die Handgranaten wären zur Explosion gekommen. Später befahl er mir, eine Türe aufzusprengen. Es war ein fürchterlicher Knall. Doch hinter der Tür war nur ein fensterloser Raum.
Lokalzeit: Wie ging es Ihnen und den beiden anderen Geiseln?
Becker: Meinen Kollegen, den 30-jährigen Kurierfahrer, nutzte der Geiselnehmer als Druckmittel. Er wurde an ein Rohr gefesselt und war durch eine Schnur am Hals mit einer entsicherten Handgranate verbunden. So musste er fünf Stunden lang stehen. Hätte er sich nur wenige Zentimeter bewegt, wäre die Handgranate explodiert. Die 30-jährige Sekretärin zitterte mittlerweile am ganzen Körper, war kaum noch ansprechbar. Ich wollte, dass sie sich ins Auto setzt. Der Täter stimmte zu. Doch dafür musste ich ihre Jacke mit der befestigten Handgranate anziehen. Ich bin von Natur aus ein sehr ruhiger Mensch, außerdem hatte ich als Betriebsleiter eine Fürsorgepflicht gegenüber meinen Mitarbeitern. Ich versuchte, den Geiselnehmer immer wieder zu beruhigen, auf ihn einzureden, aber es war wie ein Glücksspiel. Für den Täter war ich eine Art Sprachrohr. Er selbst telefonierte nicht mit der Polizei, sondern ich musste die Verhandlungen führen. Er forderte ein Fluchtauto und freien Abzug.
Die Geiselnahme in der Landeszentralbank Aachen dauerte über 50 Stunden
Lokalzeit: Die Polizei ging nicht darauf ein - wie reagierte der Täter?
Becker: Er erhöhte den Druck. Ich musste meinen Kollegen wieder losbinden und ihn in den Geldtransporter bringen. Der Geiselnehmer schoss auf ihn. Der erste Schuss ging in Richtung Fuß. Der zweite Schuss war ein Oberschenkeldurchschuss. Und der dritte ging in die Schulter oben rein und kam unter der Achselhöhle raus. Er hat enorm geblutet. Ich war schockiert.
Der finale Rettungsschuss
Lokalzeit: Die Polizei stellte schließlich ein Fluchtauto bereit, dafür ließ der Täter die anderen beiden Geiseln frei. Zu diesem Zeitpunkt waren Sie schon mehr als 50 Stunden in der Gewalt des Geiselnehmers. Doch das Fluchtauto war manipuliert.
Becker: Ja, die Polizei hat den Motor per Fernzündung ausgeschaltet, bevor wir vom Hof fahren konnten. Adnan Hodzic stieg mit mir aus und schob mir eine entsicherte Handgranate unter das Hemd. Er nutzte mich als lebendes Schutzschild. Um uns herum war alles voller Polizeifahrzeuge. Überall sah man Scharfschützen - auf den Dächern und in den Zugwaggons, die auf den Gleisen gegenüber der LZB standen.
Lokalzeit: Einer der Präzisionsschützen schießt auf den Täter. Der sackt zusammen und ist tot. Doch Sie waren immer noch nicht gerettet.
Becker: Nein, ich bin rücklings auf den Geiselnehmer gefallen und umklammerte reflexartig seine Hand, in der sich die entsicherte Handgranate befand. Wie alle anderen um mich herum fing ich an zu zählen… 21, 22, 23, 24, 25 - und dann war klar: Die Handgranate wird nicht explodieren.
- Auch bei einer Geiselnahme 1995 in Köln gab es einen finalen Rettungsschuss. Wie der Fall ausging, erfährst du hier.
Lokalzeit: Spezialisten haben die Handgranate entschärft und Sie haben die Geiselnahme überlebt. Das ist 25 Jahre her. Wie haben Sie es geschafft, diese traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten?
Becker: Meine Frau und ich haben uns gegenseitig unterstützt. Ich bin ein paar Tage später direkt wieder zur Arbeit gegangen und habe immer offen über diese Geiselnahme gesprochen. Eine Therapie habe ich nicht gemacht.