Kriminalfälle aus NRW: Hanaa S. - von der eigenen Familie getötet
Stand: 02.12.2024, 17:03 Uhr
Hanaa S. flieht 2015 vor ihrem Mann in ein neues Leben in Solingen. Dessen Familie findet sie aber trotzdem. Die 35-Jährige wird verschleppt und ermordet. Das alles klärt sich erst Jahre später. Wie der "Mord ohne Leiche" doch aufgeklärt werden konnte.
Von Wolfram Lumpe
Solingen: Als Hanaa S. verschwindet
Mitte April 2015: Hanaa S. lebt mit ihrem neuen Lebensgefährten in einer Wohnung in einem der grauen Wohnblöcke im Solinger Ortsteil Hasseldelle. Sie leben noch nicht lange in dieser Wohnung. Vielleicht hat sich die 35-jährige Mutter von drei leiblichen Kindern hier vor ihrem früheren Ehemann sicher gefühlt. Mehrfach ist Hanaa S. während ihres Zusammenlebens in Düsseldorf in umliegende Frauenhäuser geflohen. Doch immer wieder kommt sie zu ihm zurück.
Bis sie ihn endgültig verlässt. Hanaa S. findet neue Freunde, einen neuen Lebensgefährten, zieht mit ihm in die Wohnung in Solingen. Im April 2015 verschwindet sie plötzlich. Die Polizei findet Blutspuren in der Wohnung. Die lange Suche nach der Frau beginnt.
Keine Leiche, aber vier Verdächtige
Einen Monat später, im Mai 2015, ist Hanaa S. weiterhin verschwunden. Die Ermittler durchsuchen Wohnungen und andere Gebäude in Düsseldorf, an einem Transporter schlägt ein Leichenspürhund an. Alle Objekte gehören der Familie des Ehemannes von Hanaa S. Bei den Ermittlern erhärtet sich der Verdacht, dass sie für das Verschwinden der Mutter verantwortlich ist.
Der Schwager von Hanaa S. wird kurz darauf in Kroatien festgenommen, im November 2015 ein 17 Jahre alter Sohn, wenige Monate später ihr Ehemann und ein weiterer Schwager. Doch die Hoffnung, Hanaa S. jetzt schnell zu finden, erfüllt sich nicht. Alle schweigen.
Der "Mord ohne Leiche"
Im Juni 2016 beginnt der Prozess gegen die Tatverdächtigen, der in den Medien schnell als "Mord ohne Leiche" für Aufmerksamkeit sorgt. Ein Jahr lang und über 70 Verhandlungstage schleppt er sich dahin. Dann bricht der 26 Jahre alte Schwager von Hanaa S. sein Schweigen. Mehr als zwei Jahre nach dem Verschwinden von Hanaa S. führt er die Polizei im Juli 2017 in einen Wald beim nordbadischen Kronau. Dort finden die Ermittler die Überreste von Hanaa S.
In diesem Waldstück wurden die sterblichen Überreste von Hanaa S. gefunden
Jetzt machen alle Angeklagten Aussagen im Prozess. Das Gericht ist davon überzeugt, dass sich der Sohn und ein Schwager im April 2015 Zutritt zur Wohnung von Hanaa S. verschafften, wo es zu einem Kampf kam, bei dem die Mutter verletzt wurde. Sie wickelten die 35-Jährige in einen Teppich, den sie in einen Transporter trugen. Als es im Auto zu einem weiteren Kampf kommt, wird Hanaa S. getötet, ihre Leiche nach Kronau in Baden-Württemberg gebracht.
Das Urteil: Lebenslänglich für den Schwager. Neuneinhalb Jahre Jugendstrafe für den Sohn von Hanaa S. - beide wegen Mordes. Außerdem jeweils zehneinhalb Jahre für den Ehemann und einen weiteren Schwager wegen Beihilfe.
Tumulte im Gerichtssaal
Bei der Urteilsverkündung gibt es Schreie und Tumulte im Gerichtssaal. Auf dem Vorplatz des Wuppertaler Landgerichts muss die Polizei verhindern, dass die Familien von Hanaa S. und die ihres Ex-Mannes aufeinander losgehen. So eine lange Haftstrafe wegen Beihilfe? Das wollen die Angehörigen der Verurteilten nicht wahrhaben. Der geltende Strafrahmen lässt das aber zu: Drei bis 15 Jahre sind möglich.
Während des Prozesses kam es zu Auseinandersetzungen im Gerichtssaal
"Beihilfe gilt für denjenigen, der die Haupttat unterstützt und fördert. Das kann man sowohl durch eigenes Handeln, als auch durch psychische Beihilfe", sagt die Wuppertaler Richterin Helena Salamon-Limberg. "Beide dachten: Was ich mache, ist genau richtig. Das liegt an ihren Wertvorstellungen. Sie haben durch ihre psychische Unterstützung dazu beigetragen und damit den Mord gefördert. Und deswegen sind sie als Gehilfen zum Mord verurteilt worden."
Wertvorstellungen als Mordmotiv
Die "Wertvorstellungen", über die Salamon-Limberg spricht, spielen bei der Einordnung der Tat eine wichtige Rolle. Die Familien sind Jesiden aus dem Irak. "Hanaa S. kommt aus einer sehr traditionellen Gesellschaft, in der das Individuum nicht solche Rechte hat, wie wir es in der westlichen Welt kennen", erläutert der Diplom-Psychologe Ilhan Kilzilhan. Er ist Experte für Transkulturelle Psychiatrie. "Da ist die Freiheit des Kollektivs viel wichtiger als die des Individuums. Und deswegen spielte die Freiheit von Hanaa zu keinem Zeitpunkt eine wichtige Rolle."
Diplom-Psychologe Ilhan Kilzilhan ist Experte für Transkulturelle Psychiatrie
Wer sind die Jesiden?
Laut Bundeszentrale für politische Bildung ist das Jesidentum keiner der großen Weltreligionen zuzuordnen, sondern eine eigene Religion. Nur wessen beide Elternteile Jesiden sind, gehört der Religionsgemeinschaft an. Jesiden glauben an einen allmächtigen Gott. Ihre Gesellschaft ist in drei Kasten eingeteilt. Jesiden dürfen nur andere Jesiden heiraten und das auch nur innerhalb ihrer Kaste. Wer einen Nicht-Jesiden als Partner hat, ist kein Jeside mehr.
Zudem sind Familien nicht selten stark von Männern dominiert. Psychologe Kizilhan: "Der Wille nach Freiheit scheint bei Hanaa S. sehr stark gewesen zu sein, auch die Kraft zu sagen: Ich lasse mich nicht mehr unterdrücken." Die Kränkung aufseiten des verlassenen Ehemannes und die Tatsache, dass der neue Partner kein Jeside war, sind für den Psychologen die Hauptmotive für den gemeinschaftlichen Mord. Trotzdem lehnt er den Begriff "Ehrenmord" ab. Die Begriffe "Ehre" und "Mord" zusammenzubringen, sei paradox und nicht vereinbar. Stattdessen gebe es ein grundlegendes Problem, wenn Männer Macht über Frauen ausüben wollen.