Philipp Dunkel im Porträt

Wenn Zivilcourage fast tötet: Wie kann ich gefahrlos helfen?

Düsseldorf | Verbrechen

Stand: 09.12.2024, 17:03 Uhr

Ein Streit eskaliert, ein Mann greift ein und wird lebensgefährlich verletzt. Der Fall zeigt, wie gefährlich Zivilcourage sein kann. Wie man sich in Konfliktsituationen richtig verhält und warum Zivilcourage immer seltener wird.

Von Josefine Upel

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Der Fall Philipp Dunkel

Was im September 2021 wie ein ganz normaler Party-Abend in Düsseldorf beginnt, endet für Philipp Dunkel mit einer lebensgefährlichen Fleischwunde. Der heute 41-Jährige ist nachts mit zwei Freunden in der Altstadt unterwegs. Sie trennen sich für eine kurze Zeit. Als Dunkel seine Freunde wieder trifft, ist einer der beiden in eine heftige, gewalttätige Auseinandersetzung verwickelt. Ohne lange zu überlegen, stürzt sich Dunkel zwischen die beiden alkoholisierten Männer. Er will den Streit schlichten, doch plötzlich schlitzt ihm der Unbekannte mit einer abgebrochenen Glasflasche den Arm auf.

"Das war wie in einem Albtraum. Man sieht seinen Arm herunter und eine riesige, klaffende Fleischwunde. Man konnte den Unterarmknochen sehen", erzählt Dunkel später. Seine Verletzung ist lebensbedrohlich, er muss notoperiert werden. Der 41-Jährige überlebt, doch die Verletzung und der Vorfall belasten ihn bis heute. Auch der Prozess gegen den Mann, der ihn verletzt hat, endet für Dunkel enttäuschend: Er wird freigesprochen. Den Grund dafür und alle weiteren Hintergründe des Falls gibt es in der neuen Folge von Lokalzeit MordOrte auf YouTube:

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Richtiges Verhalten bei Konflikten

Im Jahr 2023 gab es in NRW laut Kriminalstatistik rund 148.600 Fälle von Körperverletzung. In der Düsseldorfer Altstadt sollen seit 2021 Waffenverbotszonen und Videoüberwachung dem Problem entgegenwirken. Verhindern konnten sie die körperliche Auseinandersetzung zwischen Dunkels Freund und dem Unbekannten nicht. Dunkel hätte seine Hilfsbereitschaft fast mit dem Leben bezahlt. Der Vorfall in Düsseldorf zeigt, wie gefährlich Zivilcourage sein kann. Die Polizei rät deshalb, in Konfliktsituationen nicht direkt einzugreifen und sich körperlich einzumischen. "Die erste Regel ist, dass man sich nicht in Gefahr bringen sollte", sagt Yvonne Leven, Präventionsexpertin beim Landeskriminalamt.

"Es gibt ganz andere, niederschwellige Dinge, die jeder gefahrlos tun kann." Zum Beispiel durch lautes Rufen aus der Ferne auf sich aufmerksam zu machen. "Das kann Täter schon so abschrecken, dass sie allein von ihrem Opfer ablassen". Dazu rät auch Konfliktforscher Andreas Zick. Er ist Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.

Konfliktforscher Andreas Zick im Porträt

Konfliktforscher Andreas Zick

"Wenn wir zum Beispiel 'Feuer' rufen, haben wir die Chance, den Täter abzulenken und dem Opfer die Flucht zu ermöglichen." Menschen in der Umgebung um Hilfe zu bitten, sei ein weiterer wichtiger Faktor. Genauso wie den Notruf zu wählen. "Außerdem ist es hilfreich, sich für eine spätere Zeugenaussage Merkmale des Täters einzuprägen und wenn nötig, das Opfer nach der Tat zu versorgen", erklärt Präventionsexpertin Leven.

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Die Pflicht zu helfen

Zivilcourage beginnt schon lange vor dem Eingreifen in körperliche Auseinandersetzungen. Situationen sind zum Beispiel: einem Opfer von Mobbing beizustehen, bei öffentlicher Diskriminierung oder Beleidigung in der Bahn einzuschreiten oder nach einem Unfall Erste Hilfe zu leisten. "Die niederschwelligste Form von Zivilcourage ist, wenn man in einer Situation einfach nur etwas sagt wie: 'Das ist nicht in Ordnung'", erklärt Präventionsexpertin Leven.

Für Konfliktforscher Zick ist Zivilcourage ein entscheidender Bestandteil unserer Gesellschaft. "Demokratien leben davon, dass die Menschen in ihnen nicht nur ihre individuellen Interessen, sondern auch Gemeinsinn entwickeln", betont er. Anderen Menschen in Not oder Gefahr zu helfen ist in Deutschland aber nicht nur eine Tugend. Wir sind sogar gesetzlich dazu verpflichtet. Wer nicht hilft, obwohl es zumutbar wäre, kann nach Paragraf 323c des Strafgesetzbuches mit einer Haftstrafe von bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe bestraft werden.

Ein Mann liegt in Essen im Vorraum einer Bank

Mehrere Personen ignorierten 2016 einen zusammengebrochenen Rentner in Essen

In Essen wurden drei Menschen wegen unterlassener Hilfeleistung zu Geldstrafen von bis zu 3600 Euro verurteilt. Sie hatten im Jahr 2016 einem zusammengebrochenen, bewusstlosen Rentner im Vorraum einer Bank nicht geholfen. Sie waren teilweise über ihn gestiegen, um an den Geldautomaten zu gelangen. Der Vorfall sorgte bundesweit für Entsetzen.

Minderheiten besonders betroffen

Mangelnde Zivilcourage ist laut Konfliktforscher Zick ein immer größer werdendes Problem. "Es gibt verschiedene Quellen, die dafür sprechen, dass Zivilcourage weniger wird." Besonders betroffen davon seien Minderheiten. "Studien zeigen, dass Vorurteile, Sexismus, Rassismus oder Antisemitismus zunehmen. Wir wissen, dass das auch mit einem Anstieg mangelnder Zivilcourage gegenüber diesen Gruppen einhergeht."

Wir haben Studien mit jüdischen und muslimischen Menschen durchgeführt, die sagen: Mein Alltag ist, dass jemand einen Spruch macht und niemand unterbricht es. Andreas Zick, Konfliktforscher
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Warum manche helfen und viele nicht

Die Gründe, warum manche Menschen helfen und andere nicht, sind laut Konfliktforscher Zick vielschichtig. In der Forschung gebe es zum einen die These, dass Menschen mit mehr Empathie eher bereit seien, anderen zu helfen. Viele Gründe für Zivilcourage finde man jedoch auch auf einer höheren gesellschaftlichen Ebene. "Populismus und die Individualisierung in der Gesellschaft nehmen zu. Viele denken zuerst an sich selbst und bauen soziale Distanz auf." Dadurch sinke die Bereitschaft, anderen zu helfen.

Dort wo es starke Nachbarschaften gibt, gibt es auch mehr Zivilcourage. Andreas Zick, Konfliktforscher

Je mehr Menschen, desto weniger Hilfe

Auf den ersten Blick könnte man meinen: Je mehr Menschen, desto mehr zeigen Zivilcourage. Eine Theorie in der Forschung besagt aber, dass das Gegenteil der Fall ist: Je mehr Menschen vor Ort sind, desto seltener wird Zivilcourage gezeigt. Dieser Effekt nennt sich Diffusion, also Streuung, von Verantwortung.

"Ein häufiger Gedanke von Menschen in Gruppen ist: 'Jemand anderes wird schon eingreifen, und wenn nicht, dann ist es wohl auch nicht so schlimm'", so Zick. Deshalb brauche es bei Großveranstaltungen wie Festivals oder Volksfesten Menschen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und sie nicht auf andere zu schieben.

Fünf Hürden zur Zivilcourage

Um Zivilcourage zeigen zu können, müssen nach einem wissenschaftlichen Modell zunächst fünf Hürden überwunden werden. Erst müssen Menschen die Konfliktsituation überhaupt wahrnehmen. Im zweiten Schritt geht es um die richtige Interpretation. Bei dem Fall in der Essener Bank gab es laut Konfliktforscher Zick bei diesem Schritt bereits Probleme. Denn im Prozess sagten die Angeklagten aus, sie hätten den zusammengebrochenen Rentner fälschlicherweise für einen Obdachlosen gehalten. Weitere Hürden sind die Übernahme persönlicher Verantwortung, das Wissen um Hilfsmöglichkeiten und schließlich die Entscheidung, tatsächlich zu helfen.

So weit die Theorie hinter Zivilcourage - und die Praxis? "Wir können lernen und trainieren, wie man mit Konfliktsituationen umgehen kann", sagt Zick. Er empfiehlt dafür unter anderem, sich nach Zivilcourage-Trainings umzusehen und betont die Bedeutung von Aufklärungsarbeit in Schulen oder am Arbeitsplatz. Auch ein Erste-Hilfe-Kurs und ehrenamtliches Engagement würden die Kompetenz stärken, im Notfall einzugreifen. Die Polizei versucht Zivilcourage unter anderem mit verschiedenen Kampagnen zu stärken. So gibt es beispielsweise auf der Webseite Zivile Helden interaktive Videos, bei denen man Zivilcourage trainieren und lernen kann.