Archivbild: Polizisten befreien Geiseln aus dem Bus, in dem ein Geiselnehmer sie in seine Gewalt gebracht hatte

Kriminalfälle aus NRW: "Wir konnten nicht davon ausgehen, lebend aus dem Einsatz rauszukommen"

Köln | Verbrechen

Stand: 11.03.2024, 15:50 Uhr

Im Juli 1995 bringt ein 31-jähriger Unbekannter an der Kölner Messe einen Bus voller Touristen in seine Gewalt und schießt um sich. Es entwickelt sich ein Geiseldrama. Ein SEK-Beamter, der damals an dem Einsatz beteiligt war, erklärt, warum die Lage so gefährlich war.

Von Axel Sommer

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Ein völlig unberechenbarer Täter

Alle Augenzeugen des Dramas vom 28. Juli 1995 berichten das Gleiche: Mit dem Geiselnehmer sind keine normalen Verhandlungen möglich. Er brüllt die ganze Zeit in gebrochenem Deutsch und gebrochenem Englisch. Das macht die Lage vor allem für die Polizeibeamten so kompliziert. Niemand weiß, was der Mann überhaupt will. Er geht völlig kompromisslos vor, erschießt als Erstes den 27-jährigen Busfahrer und feuert auch sofort auf die Polizeistreife, die zur Sondierung der Lage an den Bus herangefahren ist. Ein Beamter wird dabei lebensgefährlich verletzt, kann nur durch eine Notoperation gerettet werden. Ein etwa 50-köpfiges Spezialeinsatzkommando (SEK) wird angefordert und trifft etwa eine Stunde nach Beginn der Geiselnahme am Tatort ein. Den ganzen Fall gibt es bei WDR Lokalzeit MordOrte.

Einer der Beamten ist Peter Schulz (Name aus Sicherheitsgründen geändert). Für uns hat er sich an einen seiner heikelsten Einsätze zurückerinnert:

"Wie Sie sich vorstellen können, war es eine sehr hektische Phase. Gerade am Anfang. Die Situation hat sich auch nicht beruhigt, weil der Täter so viel Druck gemacht hat. Wir haben festgestellt, dass er nicht nur eine Sprengstoffweste trug, sondern auch in den Hutablagen des Busses offensichtlich Kabel verlegt hatte. Und das machte die Lage natürlich relativ außergewöhnlich und extrem gefährlich."

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"Der Täter wird auf jeden schießen, der sich nähert"

Lokalzeit.de: Wann ist die Entscheidung gefallen, dass es einen finalen Rettungsschuss geben muss?

Peter Schulz: Bei dieser Lage, bei der bereits jemand zu Tode gekommen ist und der Täter unzweifelhaft klargemacht hat, dass er auf jeden schießen wird, der sich dem Bus nähert, war die Freigabe durch den Polizeiführer schon relativ früh erfolgt. Der Polizeiführer ist derjenige, der den finalen Rettungsschuss freigeben muss. Allerdings unter der Maßgabe, dass durch den Zugriff, der dann erfolgen soll, keine weitere Gefahr für die Geiseln bestehen darf.

Lokalzeit.de: Wie wurde der Eingriff denn vorbereitet?

Schulz: Erstmal mussten wir uns fragen, wer den Einsatz macht. Und das ist nicht einfach. Denn auch für einen SEK-Beamten ist es nicht oft so, dass man einen Einsatz macht, bei dem man möglicherweise wenig Chancen hat, lebend aus der Sache rauszukommen.

Lokalzeit.de: Inwiefern bestand diese Gefahr?

Schulz: Jeder wusste, wenn der Sprengstoff in dem Bus in die Luft geht, dann würden wir das vermutlich nicht überleben. Wir gingen ja davon aus, dass der Sprengstoff scharf war. Entsprechend kam nur infrage, dass man Leute schickt, die bereit sind, das freiwillig zu machen. Wir waren uns schnell einig, dass wir das nicht so machen wie sonst. Normalerweise wäre eine größere Gruppe von Einsatzkräften an den Bus herangetreten. Aber wegen dem Sprengstoff haben wir entschieden, das nur zu zweit zu machen. Interessanterweise war es aber kein Problem diese Freiwilligen zu finden. Uns allen war einfach klar, dass wir unbedingt was machen müssen.

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Spektakuläre Flucht

Die beiden SEK-Beamten, darunter Peter Schulz, gingen damals schnell in Position, versteckten sich hinter einem Container - etwa 30 Meter vom Geiselbus entfernt. Für den Eingriff mussten sie allerdings auf den richtigen Moment warten. Denn der Geiselnehmer hatte alle Vorhänge im Bus zugezogen und war für die Scharfschützen nicht zu sehen. Es dauerte mehrere Stunden, bis sich plötzlich etwas im Bus rührte: Unter den Geiseln kam Unruhe auf. Es fiel ein Schuss.

Lokalzeit.de: Wie haben Sie diese Momente erlebt?

Schulz: Soweit ich mich erinnere, ist ein Jugendlicher im Bus plötzlich aufgesprungen und hat versucht, durch das schon zerstörte Heckfenster zu springen. Der Täter hat das natürlich mitbekommen und hat sofort auf den Jungen geschossen. Dann hat sich eine Person in die Schusslinie geworfen und wurde getroffen. In der Zeit konnte der Junge aus dem Fenster springen und in Richtung unserer Absperrung laufen, unversehrt. Den verletzten Passagier hat der Täter dann gehen lassen. Er ist auch aus dem Heckfenster raus, konnte aber durch den Schuss nicht mehr richtig laufen.

Archivbild: Ein verletzter Tourist springt aus dem Rückfenster des gekaperten Busses

Der Moment, als der angeschossene Passagier, ein damals 53 Jahre alter Tourist aus Österreich, aus dem Bus entkommen kann

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Der Zugriff

Als gegen 16.40 Uhr erneut Geschrei und ein Schuss im Bus zu hören waren, traf die Einsatzleitung die Entscheidung: Zugriff. Denn für einen kurzen Moment war der Täter im Fahrerbereich zu sehen.

Lokalzeit.de: Wie ist der Einsatz aus Ihrer Sicht abgelaufen?

Schulz: Unsere Schützen haben das Feuer auf den vorderen Bereich eröffnet. Und in dessen Schutz haben mein Kollege und ich uns dem Bus genähert, und zwar von der Fahrerseite aus in Richtung Fahrertür. Die Tür war allerdings verschlossen. Also hat mein Kollege mit seinem Schlagstock die Scheibe eingeschlagen. Ich habe durchgegriffen und die Tür von innen geöffnet. Allerdings wurde mittlerweile von der Befehlsstelle der sogenannte Notzugriff ausgelöst. Sie hatten mitbekommen, dass die Tür nicht gleich aufging.

Lokalzeit.de: Was bedeutet das?

Schulz: Notzugriffskräfte sind bei jedem Einsatz positioniert, um bei einer Eskalation und unvorhergesehen Dingen zu retten, was zu retten ist. Diese Kollegen sollten durch die Heckscheibe, die ja schon zerstört war, mittels Leiter in den Bus eindringen. Letztlich genauso ein Himmelfahrtskommando wie unseres. Wir gingen ja immer noch davon aus, dass Sprengstoff im Bus war. Während die Kollegen angelaufen kamen, konnte ich die Tür allerdings öffnen, bin in den Bus und hab den Täter direkt gesehen.

Lokalzeit.de: In welcher Verfassung war er?

Schulz: Er lag auf dem Boden, die Waffe neben sich, und ich konnte schon sehen, dass da ein Blutstrom aus seinem Kopf lief. In der Zwischenzeit kamen die Kollegen vom Ende des Busses rein. Sie gingen natürlich davon aus, dass wir nicht drin sind - weil der Notzugriff sonst nicht ausgelöst worden wäre. Und so standen wir uns dann sozusagen gegenüber.

Lokalzeit.de: Das hätte auch schief gehen können.

Schulz: Zum Glück war der vordere Kollege so geistesgegenwärtig, dass er erkannte: Mein Gegenüber trägt keine Sturmhaube, sondern hat einen Helm auf. So erkannte er, dass wir alle hier im Einsatz waren. Dann haben wir die Geiseln evakuiert. Außerdem konnte ich noch feststellen, dass es sich nicht um echten Sprengstoff gehandelt hatte, sondern um Holzattrappen, die aussahen wie Dynamitstangen.

Lokalzeit.de: War das der schwierigste Einsatz Ihrer SEK-Laufbahn?

Schulz: Das ist schwer zu sagen. Es war eine lange Zeit. Aber es war mit Sicherheit einer der Heikelsten, den ich hatte. Und den beteiligten Kollegen wird es genauso gehen. Weil wir eben nicht davon ausgehen konnten, nur durch unser eigenes Können, unser eigenes Geschick und unser eigenes Training lebend aus diesem Einsatz rauszukommen. Und das ist selbst für SEK-Beamte nicht alltäglich.

Der Schuss aus der Waffe des Täters kurz vor dem Zugriff traf eine 60-jährige Frau. Er war tödlich. Insgesamt starben zwei Geiseln, bevor sich die Polizeiführung zu einem Eingriff entschlossen hat. Das Motiv des Geiselnehmers konnte bis heute nicht geklärt werden. Der 31-Jährige erlag noch im Bus seinen Schussverletzungen.