Hans-Jürgen Rösner steht vor dem gekaperten Bus

Kriminalfälle aus NRW: Das Geiseldrama von Gladbeck

Recklinghausen | Verbrechen

Stand: 16.08.2024, 06:14 Uhr

Am 16.8.1988 überfallen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski eine Filiale der Deutschen Bank im Gladbecker Stadtteil Rentfort-Nord und nehmen Geiseln. Es folgt eine 54-stündige Irrfahrt durch Deutschland und die Niederlande. Ein Verbrechen, das zum Medienspektakel wurde - und tödlich endete.

Von Axel Sommer

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Früh war klar: Die Geiselnehmer schießen

Peter Braczko ist einer der Ersten an der Bank in Rentfort-Nord. Es ist Dienstag, der 16.08.1988. Ein heißer Sommermorgen. Der Fotograf der Ruhr-Nachrichten ist heute im Ruhestand, erinnert sich aber noch an jedes Detail. Eine Geiselnahme war in Gladbeck nicht an der Tagesordnung. "Was findet denn hier statt?", fragte er einen der Polizeibeamten vor Ort, den er kannte, vor der Bankfiliale. Da fiel schon der erste Schuss. "In dem Moment, das muss wohl der Rösner gewesen sein, schrie einer: Ihr Schweine, ich knall euch ab!", erzählt Braczko. "Und dann hörte ich nur einen Knall, und hinter mir splitterte an einem Baum die Rinde ab. Sofort drückten zwei Polizisten mich nach unten auf die Wiese, und dann lagen wir erst mal da, bis sich Rösner beruhigte."

Fotograf Peter Braczko sitzt in einem Stuhl

Fotograf Peter Braczko beim Interview mit dem WDR

Das muss die Einsatzleitung beeindruckt haben. Denn die Forderungen der Geiselnehmer wurden nach knapp zehn Stunden zäher Verhandlungen schließlich am frühen Abend erfüllt: 300.000 Mark und ein Fluchtauto. Man ließ die Geiselnehmer mit zwei Angestellten der Bank ziehen. Bereits am Nachmittag hatten sie per Telefon aus der Bank Radio-Interviews gegeben. Nur eine Forderung erfüllte die Polizei nicht: Das Fluchtauto war mit einem Peilsender versehen und verwanzt. Heimlich wollte man ihnen folgen. Obwohl man wusste: Diese Täter sind gewaltbereit.

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Interviews mit Pistole im Anschlag

Noch in Gladbeck, am frühen Abend jenes ersten Tages: Das Fluchtauto wird an einer Tankstelle gewechselt, und die Geiselnehmer holen noch die Freundin von Hans-Jürgen Rösner, Marion Löblich, ab. Das Trio mit den beiden Geiseln landet nach einer Odyssee durch NRW und Niedersachsen am nächsten Morgen in Bremen. Versuchen am Vormittag des zweiten Tages über die 110 mit der Polizei zu verhandeln. Doch dort fühlt man sich nicht zuständig. Zu diesem Zeitpunkt sind die beiden Gladbecker Geiseln bereits über 24 Stunden in der Gewalt der Bankräuber. In Bremen eskaliert dann die Situation: Nach einem bewaffneten Spaziergang durch die Stadt kapern sie kurzerhand einen Linienbus samt 30 Insassen. Unter den Geiseln auch der 14-jährige Emanuele di Giorgi und die 18-jährige Silke Bischoff. Beide sollen das Drama nicht überleben.

Doch zunächst ereignen sich hier in Bremen skurrile Szenen, die in der deutschen Kriminalgeschichte vorher und nachher beispiellos sind: Die Täter sprechen mit umstehenden Journalisten, die Waffe immer im Anschlag. Kinder spielen neben dem Bus. Die Polizei sperrt nicht ab. Greift nicht ein. Daraufhin vermittelt ein Fotograf zwischen Geiselnehmern und Polizei, andere Journalisten führen Interviews mit Rösner. Währenddessen bedrohen Degowski und Löblich im Bus die anderen Geiseln. Das Interview läuft abends in den "tagesthemen". Ein Kommentator spricht davon, "das Klima dieser Entführung ähnelt einem Betriebsausflug."

Doch als nach Stunden die Polizei die Forderung nach einem neuen Fluchtwagen nicht erfüllt, kippt die Stimmung. Rösner schießt plötzlich in die Luft und droht lautstark vor dem Bus, ein kleines Mädchen zu töten. Als die Polizei immer noch nicht reagiert, schließen sich die Türen und der Bus fährt ab. An der Raststätte Grundbergsee dann das Drama: Komplizin Löblich führt einige Geiseln zur Toilettenpause. SEK-Beamte wittern ihre Chance und schlagen zu. Ohne Rücksprache mit der Einsatzleitung wird Löblich überwältigt und festgenommen. Im Bus Geschrei. Dann fällt der erste tödliche Schuss. Degowski trifft den 14-jährigen Emanuele di Giorgi, der noch an der Raststätte verblutet. Löblich wird umgehend wieder freigelassen. Im Chaos bekommt der Bus wieder freien Abzug. Polizei und Journalisten jagen hinterher.

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"Halt ihr noch mal die Knarre an den Kopf!"

Das nächste Ziel auf der Flucht sind die Niederlande. Am späten Abend des zweiten Tages, nach über 40 Stunden, passiert der Bus die Grenze bei Oldenzaal. Ein ganzer Tross von Journalistenfahrzeugen versucht zu folgen. Das Taxi eines dpa-Korrespondenten wird von Rösner beschossen. Die Windschutzscheibe weist ein Einschussloch auf. Doch Fahrer und Reporter kommen mit dem Schrecken davon. Die Presseleute werden nicht über die Grenze gelassen.

In Holland verhandelt die Polizei offenbar anders. Man schafft es dort, dass die Täter fast alle Geiseln freilassen, und stellt ihnen einen neuen Wagen zur Verfügung. Wie gefordert, einen BMW. Doch zu einem hohen Preis: Bei der Verfolgung stirbt ein holländischer Polizist. Zwei Geiseln bleiben übrig: Silke Bischoff und ihre Freundin Ines Voitle müssen aus dem Bus mit in den BMW steigen.

Den ganzen Fall gibt es bei WDR Lokalzeit Mordorte:

Die Irrfahrt geht weiter. Mittlerweile seit gut 48 Stunden. Keiner der Täter hat eine Minute geschlafen. Der Wagen wird dann in der Kölner Fußgängerzone von einem WDR-Journalisten entdeckt. Wiel Verlinden hat damals eigentlich gar nichts mit der Geiselnahme zu tun, aber da das Auto direkt vor dem WDR-Gebäude gesichtet wird, geht er hin. "Ich sah das Auto mit den Geiselnehmern, aber vor allem sah ich den Blick von Silke Bischoff. Sie wollte unbedingt etwas sagen, wollte deutlich machen, dass die Polizei nicht eingreift. Sie hatte Angst, große Angst."

Dieter Degowski hält Silke Bischoff eine Pistole an den Kopf

Es bleibt nicht bei einem Kamerateam. Schnell wird das Auto von Journalisten und Schaulustigen in der Kölner Breite Straße umringt. Ein Eingreifen der Polizei ist so nicht möglich. Fotografen drängeln sich um die besten Fotos von den Geiselnehmern und Geiseln. Die Bilder gehen um die Welt. Ein Polizeibeamter, der mithört, berichtet später, es sei von einem Reporter der Satz gefallen: "Halt ihr noch einmal die Knarre an den Kopf! Ich hab das Bild noch nicht."

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Fehlende Erinnerungskultur in Gladbeck

Und es wird noch schlimmer kommen. Am Mittag jenes 18.08.1988 steigt ein Kölner Boulevard-Journalist in das Fluchtauto ein, um die Geiselnehmer aus der Fußgängerzone herauszuleiten. Wieder folgen Polizei und Journalisten dem BMW. Der Konvoi erreicht die Autobahn Richtung Siegburg. An der dortigen Raststätte steigt der Reporter wieder aus, und kurz darauf erfolgt der Zugriff: Mit einem gepanzerten Fahrzeug rammen SEK-Beamte den Wagen, es kommt zur Schießerei. Bischoff stirbt noch auf der Autobahn, getroffen von einer Kugel aus der Waffe von Rösner. Die Geiselnehmer werden überwältigt und festgenommen. Voitle überlebt leicht verletzt. Es ist fast genau 15 Uhr. Zu diesem Zeitpunkt endet ein 54-stündiges Drama auf tragische Art und Weise.

Die Aufarbeitung des Gladbecker Geiseldramas dauert Jahre. Rösner und Degowski werden zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Seit dem Geiseldrama hat sich der Pressekodex aller Journalisten geändert. Dort steht heute schwarz auf weiß: "Interviews mit Tätern während einer Tat darf es nicht geben."

Ganz in der Nähe der Autobahn - in Hennef, dort, wo der Zugriff erfolgte - erinnert heute noch eine Gedenkstätte an die erschossene Geisel Bischoff. Auch in Bremen steht eine Gedenktafel an die Ereignisse jener Tage im August 1988. Nur in Gladbeck gibt es eine solche Erinnerungsstätte nicht. Sehr zur Verwunderung vieler Gladbecker Bürgerinnen und Bürger, wie eine Straßenumfrage der Lokalzeit zeigt. Man wünsche sich einen Ort der Erinnerung in Gladbeck, denn ein solches Verbrechen habe es vorher und nachher in der deutschen Kriminalgeschichte nicht gegeben.

Geschehen ist seither nichts.