Russlands Angriffskrieg: Mit Technologie aus Deutschland?

Monitor 09.02.2023 10:01 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Julia Regis, Véronique Gantenberg, Silke Diettrich, Frank Konopatzki

MONITOR vom 09.02.2023

Russlands Angriffskrieg: Mit Technologie aus Deutschland?

Russische Waffen sorgen in der Ukraine für Tod, Leid und Verwüstung. Zentral für ihren Einsatz ist westliche Technologie. Deshalb wollte die EU den Zugang Russlands zu Halbleitern, Computer-Chips und anderen Bauteilen versperren. Doch MONITOR-Recherchen zeichnen ein anderes Bild: Seit Kriegsbeginn kommen sogar mehr kriegswichtige Chips nach Russland als zuvor. Auch aus Deutschland wurde solche Ware über Drittländer wie die Türkei nach Russland verkauft.

Von Julia Regis, Véronique Gantenberg, Silke Diettrich, Frank Konopatzki

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Georg Restle: "Ein Jahr Krieg in der Ukraine. Tausende zivile Opfer, getötet oder schwerstverletzt von russischen Bomben- und Raketenangriffen. Ein Krieg, den Russland vermutlich kaum führen könnte ohne Hilfe aus dem Westen. Denn auch das gehört zur Wahrheit dieses Krieges. Ohne westliche Technologie würden viele russische Raketen kaum ihr Ziel finden, viele Waffen wären praktisch wirkungslos. Dabei handelt es sich oft um kleinste elektronische Bauteile, Halbleiter oder Computer-Chips, die von westlichen Unternehmen hergestellt werden. Eigentlich dürften viele solcher Teile längst nicht mehr nach Russland exportiert werden. Werden sie aber, mehr denn je sogar. Weil westliche Firmen Wege gefunden haben, wie man die Sanktionen gegen Russland ziemlich einfach umgehen kann. Julia Regis, Véronique Gantenberg und Silke Diettrich zeigen ihnen am Beispiel einer deutschen Firma, wie leicht das alles geht."

Raketeneinschläge mitten auf einer Straße, in Wohnvierteln. Völlig zerstörte Häuser, tausende Verletzte und Tote. Leid und Verwüstung. Verursacht etwa durch solche Langstrecken-Marschflugkörper, Typ KH 101. Ihre niedrige Flugbahn macht es schwer, sie aufzuspüren. Sie zählen zu den fortschrittlichsten Waffen, die Russland zu bieten hat. Doch bei Untersuchungen von Raketentrümmern in der Ukraine zeigt sich, in allen modernen russischen Waffen werden elektronische Komponenten entdeckt, die Russland selbst nicht herstellen kann, sondern aus dem Westen importieren muss.

James Byrne, Royal United Services Institute (Übersetzung Monitor): "Westliche Komponenten, westliche Technologie, westliche Halbleiter sind das Herzstück russischer Waffensysteme. Von Präzisionsraketen über Drohnen bis hin zu ballistischen Raketen – so funktioniert die Kriegsmaschinerie, so funktionieren russische Waffen, und all das kommt aus unseren Ländern."

Hightech aus dem Westen für russische Waffen? Tatsächlich hatte das auch die EU schon kurz nach Kriegsbeginn erkannt und setzte bestimmte elektronische Teile auf die Sanktionsliste. Trotzdem wird Russland weiter mit kriegswichtiger Technologie versorgt. Wie ist das möglich? Unsere Recherchen führen uns hier hin: Kerpen in Nordrhein-Westfalen, Industriegebiet – eine unscheinbare Lagerhalle, Firmensitz eines Unternehmens, das in dieser Geschichte eine zentrale Rolle spielt, die smart Impex GmbH. Während unserer Recherche werden uns Zolldaten aus Russland zugespielt. Wir erhalten Einblick in nicht öffentliche russische Handelsverbindungen. Es geht um Lieferungen westlicher Technologie an eine russische Firma. Vor Kriegsbeginn taucht hier immer wieder die smart Impex GmbH auf, das deutsche Unternehmen aus Kerpen. Impex steht offenbar für Import Export. Laut Gesellschaftsvertrag handelt das Unternehmen vor allem mit IT. Die russischen Zolldaten zeigen, die Firma mit Sitz in der Nähe von Köln verkauft bis wenige Tage vor Kriegsbeginn elektronische Komponenten an ein russisches Unternehmen mit dem Namen Fast Impex. Mit Kriegsbeginn und Inkrafttreten der Sanktionen stoppt der Handel – scheinbar. Die Technologie aus dem Westen landet nämlich weiter hier: Flughafen Sheremetyevo in Moskau. Elektronische Bauteile wie Festplatten und integrierte Schaltkreise erreichen nach wie vor das gleiche russische Unternehmen. Das zeigen die Zolldaten, die uns vorliegen. Nur, jetzt wird die Ware von einer türkischen Firma namens AZU International verkauft. Istanbul, Türkei – das NATO-Mitglied hat sich für Russland zu einem Drehkreuz für westliche Technologie entwickelt. Die Türkei hat keine Sanktionen gegen Russland verhängt. Im Gegenteil, Putin und Erdogan wollen ihre Handelsbeziehungen sogar ausbauen – mitten im Krieg. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Elina Ribakova hat in einer ausführlichen Analyse russische Importe ausgewertet. Gerade bei IT-Produkten spiele die Türkei neben großen Playern wie China und Hongkong eine zunehmend wichtige Rolle.

Elina Ribakova, Institute of Internationale Finance (Übersetzung Monitor): "Nehmen wir die Kategorien 'Chips und elektronische Schaltkreise', sehen wir einen massiven Anstieg, der jedes Diagramm sprengt. Einen Anstieg der Exporte aus der Türkei nach Russland, besonders von Unternehmen, die noch nie mit dieser Art von Komponenten gehandelt haben. Warum wird die Türkei plötzlich zu einem Drehkreuz für Mikrochip-Exporte nach Russland? Ich denke, das ist der Beweis für eine mögliche Umgehung der Sanktionen."

Umgehung von Sanktionen über die Türkei? Tatsächlich sind die IT-Exporte der Türkei nach Russland explodiert. 2021 exportierte die Türkei Halbleiter und elektronische Schaltkreise im Wert von rund 300.000 Dollar nach Russland; im vergangenen Jahr stieg der Wert auf über 86 Millionen. Istiklal-Straße, die bekannteste Einkaufsstraße in Istanbul. Hier soll AZU International sitzen – das türkische Unternehmen, das wir in den Zolldaten entdeckt haben. Wir finden vor Ort nur eine Firma, die Büros vermietet. Wir drehen verdeckt und fragen nach. Die AZU habe hier Büros gemietet, heißt es. Die Räume aber sind alle leer – erstaunlich für ein Unternehmen, das im vergangenen Jahr Ware im Wert von über 20 Millionen Dollar nach Russland exportiert hat. Wir versuchen mehr über AZU herauszufinden. Im türkischen Handelsregister entdecken wir schließlich, die Firma wurde erst kurz nach Kriegsbeginn gegründet, im März 2022. Und uns fällt noch etwas auf. Mitgründer ist Göktürk A. Erstaunlich, denn genau dieser Göktürk A. ist außerdem Geschäftsführer bei der deutschen Firma smart Impex. Mit smart Impex verkauft Göktürk A. also bis zum Kriegsbeginn nach Russland. Und gründet dann – kurz nach Kriegsbeginn – eine Firma in der Türkei, die ab da die gleichen Waren an das gleiche Unternehmen in Russland verkauft. Besteht die türkische Firma möglicherweise nur auf dem Papier, damit weiter westliche Technologie nach Russland geliefert werden kann? Göktürk A. taucht schon im Dezember vergangenen Jahres in einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters auf. Es geht um mögliche Sanktionsverstöße. Interne Dokumente, die uns vorliegen, zeigen, ein anderer Geschäftsführer verlässt daraufhin sogar die smart Impex GmbH. Laut Kündigungsschreiben kommt es dazu, weil der Geschäftsführer sich darüber getäuscht fühlte,

Zitat: "… dass Lieferungen der smart Impex GmbH an die Firma AZU in der Kenntnis erfolgten, dass von der AZU Lieferungen nach Russland/Belarus getätigt werden würden."

Der ehemalige Geschäftsführer hatte also offenbar keinen Zweifel daran, dass die smart Impex GmbH über die Firma in Istanbul weiter elektronische Komponenten nach Russland verkauft. Wir fahren nach Kerpen zum Geschäftssitz der Firma. Wir wollen wissen, was das Unternehmen dazu sagt, dass das Geschäft über Istanbul nach Moskau offenbar weiter betrieben wurde – und damit möglicherweise kriegswichtige Technologie weiter nach Russland gelangte.

Reporter: "Ja, guten Tag, Pollmeier von der ARD. Wir würden gerne über ihr Russland-Geschäft mit Ihnen sprechen. Vielleicht ist der Herr […] da. Hier stehen drei Autos und niemand macht die Tür auf, das ist ein bisschen merkwürdig."

Doch mit uns sprechen will hier niemand. Selbst dem Paketdienst wird nicht aufgemacht. Man scheint nervös und das offenbar begründet. Die Anwältin Bärbel Sachs ist spezialisiert auf Sanktionsrecht – sie sieht hier mindestens einen begründeten Anfangsverdacht.

Bärbel Sachs, Rechtsanwältin Außenwirtschaftsrecht: "Wenn das deutsche Unternehmen nach Erlass des Embargos nun seine sanktionierten Produkte nicht mehr selbst nach Russland liefert, sondern von einer türkischen Firma die Lieferung übernehmen lässt, dann können sie einen Verstoß gegen das Embargo haben. Das ist eine Handlung, die strafbar ist, und zwar mit einer nicht unbeträchtlichen Freiheitsstrafe, nämlich von nicht unter einem Jahr."

Auf schriftliche Anfrage schreibt die smart Impex, man lasse die Vorwürfe gerade prüfen, gehe derzeit aber davon aus, dass man keine Sanktionen verletzt habe. Gleichzeitig werden offenbar Spuren verwischt. Anteile werden verkauft, Gesellschafterstrukturen geändert. Wir fragen die zuständige Staatsanwaltschaft in Köln an, ob im Zusammenhang mit der smart Impex GmbH ermittelt wird. Zunächst erhalten wir keine Antwort. Heute schlugen die Ermittler dann zu und durchsuchten Geschäftsräume und Privatwohnungen.

Ulrich Bremer, Oberstaatsanwalt Köln: "Wir gehen dem Verdacht nach, dass die Beschuldigten bewusst EU-Sanktionen gegen Russland umgangen haben sollen, indem sie über eine weitere Firma in der Türkei Elektro-Komponenten nach Russland geliefert haben sollen. Das geschätzte Handelsvolumen von dem wir ausgehen, beläuft sich auf über 15 Millionen US-Dollar."

Westliche Technologie in russischen Kriegswaffen? Für viele Firmen – auch in Deutschland – scheint Russlands Krieg ein gutes Geschäft. Für die Ukraine bedeutet das weiterhin Angriffe mit modernen Waffensystemen, mit katastrophalen Folgen für die Menschen vor Ort.

Georg Restle: "Auch wenn die Kölner Staatsanwaltschaft heute reagiert hat, man weiß eigentlich gar nicht, worin der größere Skandal besteht: Dass viele westliche Firmen so agieren oder dass es ihnen so leicht gemacht wird."

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Stand: 09.02.2023, 22:25 Uhr

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4 Kommentare

  • 4 Wolfgang Pauli 10.02.2023, 11:21 Uhr

    Alle Wege führen nach Rom, zu viele nach Moskau. Ist ein Weg zu nimmt man den nächsten. So kommen wir nicht weiter. Wir brauchen ein Friedensabkommen und mit dem Minsker Abkommen ist die meiste Arbeit schon getan. Wobei ich einen Lieferstop von Halbleitern noch halbwegs nachvollziehen könnte aber nicht die "grandiose Idee, einen Wirtschaftskrieg gegen unseren wichtigsten Energielieferanten vom Zaun zu brechen." Diese Geschichte bleibt ein nebensächliches Hase - Igel Spiel.

  • 3 Michael Radke 09.02.2023, 23:37 Uhr

    Einen großen Dank an die intensive Recherchearbeit von Monitor. Die Veröffentlichungen von Monitor haben mich angesichts der katastrophalen Bilder aus der Ukraine schockiert; ich empfinde die Sachverhalte als eine Schande und Bankrotterklärung des Bundesjustizministers Herrn Dr. Marco Buschmann und des Bundesfinanzministers Herr Christian Lindner sowie der deutschen Staatsanwaltschaft. Wieso werden über den Zoll schnell nachvollziehbare Verstöße nicht konsequent verfolgt? Ist die Ausfuhrkontrolle der BAFA völlig wirkungslos? Das „wegschauen“ und die konsequente Unterlassung der politisch Verantwortlichen in Deutschland ist inzwischen unerträglich und schadet dem Ruf unseres Landes. Sehr geehrte Herren Minister, handeln Sie bitte schnell, in aller Härte und Konsequenz und flächendeckend.

  • 1 Klaus 09.02.2023, 18:35 Uhr

    Russlands Angriffskrieg könnte sofort beendet werden wenn die US-Regierung der ukrainischen Regierung erlaubt kompromissbereite Waffenstillstands-Verhandlungen zu führen. Doch das wollen die US-Politiker nicht. Sie wollen denkbar den Verteidigungskrieg der ukrainischen Armee gegen die Russische Föderation um derer Armee „ausbluten“ zu lassen. Zugleich haben sie dann nicht nur die Russische Föderation geschwächt sondern auch den Wirtschafts-Konkurrenten Deutschland. Der US-Druck auf Deutschland wird zunehmend stärker. US-Politiker wollen denkbar mit aller Gewalt unser Deutschland und andere EU-Staaten in einen Krieg gegen Russen drängen. Und unsere Grün-68er Regierung? Ich habe den Eindruck dass der Selensky für sie gottähnlich ist. Dieser Mann bekommt „freiwillig und bedingungslos“ alle seine Forderungen erfüllt. Politiker stehen ehrfürchtig auf und klatschen Beifall für seine, wechselnd mit Druck, Beleidigung und Danksagung versehenen unbegrenzten Forderungen (bald auch Atomwaffen?)

    • A. Wilf 10.02.2023, 12:53 Uhr

      Klaus' Kommentar geht von zwei falsche Annahmen aus. Es gibt keine Kompromissbereitschaft seitens Russland. Putin ist nicht zu Verhandlungen, solange die Ukraine nicht kapituliert. Und Präsident Selensky kann und würde jetzt keine Verhandlungen aufnehmen. Die Behauptung, dass er dazu der Erlaubnis der US-Regierung bedüfte, müssen Sie belegen. Ich halte sie für falsch. Putin hat Ramsan Kadyrow als seinen Satrapen in Tschetschenien installiert, der syrische Diktator Assad hält sich nur durch Putin noch an der Macht. Putins Kriegsziel ist nach wie vor, dass die Ukraine ausgelöscht wird. Die Menschen dort wissen, was mit ihnen passieren würde. Wer jetzt Verhandlungen fordert, ist bereit, die Ukraine Putin zu opfern. "Gottähnlicher" Selensky? Im WDR 5 sagte der Journalist Roman Goncharenko gerade, er halte Selensky für einen Glücksfall für sein Land. Dem schließe ich mich an.