MONITOR vom 07.10.2021

Europas Schattenarmee: Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze

Kommentare zum Thema, weiterführende Links und der Beitragstext als PDF

Georg Restle: "Und jetzt zu unserer angekündigten Exklusiv-Recherche. Unbekannte maskierte Männer, die plötzlich im Wald auftauschen und mit Schlagstöcken bewaffnet hemmungslos auf Menschen einprügeln. Die Familien in fensterlose Transporter sperren, um sie irgendwo in dichten Wäldern auszusetzen. Es sind Szenen wie aus einem Horrorfilm, die wir Ihnen gleich zeigen werden, aber sie sind tägliche Realität, mitten in Europa. Unsere Filmaufnahmen belegen eindrücklich, was Europas Politiker seit Jahren hartnäckig ignorieren oder leugnen. Schwerste und systematische Menschenrechtsverletzungen an der EU-Außengrenze. Gemeinsam mit dem ARD Studio Wien, dem Spiegel und weiteren europäischen Medienpartnern haben wir monatelang recherchiert und waren unterwegs an der EU-Außengrenze zwischen Kroatien und Bosnien und Herzegowina. Wir wollten wissen, wer sind diese maskierten Männer eigentlich? In wessen Auftrag sind sie unterwegs? Und welche Rolle spielen die EU und die deutsche Bundesregierung dabei? Shafagh Laghai."

Heimliche Handy-Aufnahmen aus einem fensterlosen Transporter.

Mann (Übersetzung Monitor): "Sie deportieren uns!"

Eine verzweifelte Familie – entführt von maskierten Unbekannten. Wie kam es dazu? Velika Kladusa – im Norden von Bosnien und Herzegowina. Auf diesem Feld sind sie gestrandet: Flüchtlinge aus Afghanistan, Irak oder Syrien. Außer den paar Zelten und Planen haben sie hier nichts. Ein paar Kilometer weiter ist Kroatien, beginnt die EU. So nah und doch kaum erreichbar. Auch nicht für Familie Kureishi. Sie kommen aus Kunduz in Afghanistan. Er war dort beim afghanischen Militär. Sie war Lehrerin, hat Mädchen unterrichtet. Für die Taliban waren sie deshalb Verräter.

Niyaz (Übersetzung Monitor): "Anfangs haben wir noch gehofft, dass sie uns in Ruhe lassen. Aber ist von Tag zu Tag schlimmer geworden."

Mariam (Übersetzung Monitor): "Wir hatten Angst um unser Leben. Sie haben uns Drohbriefe geschrieben, ihr steht auf unserer Liste. Egal wo ihr seid, wir werden euch finden und umbringen."

Einige der Drohbriefe haben sie fotografiert. Sie mussten fliehen, um zu überleben, sagen sie. Jahrelang sind sie schon unterwegs. Nun sind sie hier gestrandet, im europäischen Niemandsland. In Bosnien liegt die Arbeitslosigkeit bei knapp 40 Prozent, hier will sie keiner haben. Ihr Traum ist ein sicheres Leben in Europa, in der EU. Familie Kureishi packt und will los. Der Weg führt über Kroatien. Fünfmal haben sie es schon versucht. Doch jedes Mal wurden sie in Kroatien von uniformierten Männern aufgegriffen und zurückgebracht, erzählen sie. Auf einen Zettel schreiben sie: "ASYLUM" – Asyl. Den wollen sie den kroatischen Polizisten zeigen, falls sie wieder erwischt werden. Dann gehen sie los. Bis zur Grenze dürfen wir sie begleiten. Die so genannte "grüne Grenze” zwischen Bosnien und Kroatien ist eine der längsten und am stärksten bewachten der EU. Sie müssen unbemerkt durchkommen. Der Weg führt durchs Unterholz dichter Wälder. Mariam Khureisi hat von Geburt an nur eine Niere. Lange und schwer tragen könne sie nicht. Die Kinder würden erstaunlich viel verstehen, sagen sie. Trotzdem können sie nicht immer still sein.

Mariam (Übersetzung Monitor): "Ich stehe total unter Stress."

Niyaz (Übersetzung Monitor): "Wir haben furchtbare Angst. Die Kinder haben auch Angst. Wir hoffen, dass wir dieses Mal nicht zurückkommen. Es ist schwer zu ertragen."

Nach einer Stunde stehen sie kurz vor dem Grenzübergang. Jetzt sind sie in Kroatien – in der Europäischen Union. Wir wissen nicht, ob wir wieder etwas von ihnen hören werden, ob sie wieder erwischt und zurückgebracht werden Es sind menschliche Dramen, die sich hier täglich abspielen in den Wäldern Kroatiens an der Außengrenze der EU. Eigentlich dürfte niemand zurückgeschickt werden, der in Kroatien Asyl beantragt. Solche "Pushbacks" sind eindeutig illegal. Gemeinsam mit europäischen Medienpartnern und der Recherche-Plattform Lighthouse Reports untersuchen wir monatelang, was in der kroatischen Grenzregion passiert. Sind es kroatische Polizisten, die die Pushbacks durchführen? Und passiert das systematisch? Mehrere Teams aus unserer Gruppe reisen über Wochen an die Grenzorte, drehen mit versteckten Kameras. Am 3. September dreht ein Team diese Drohnenbilder: Ein kroatischer Polizeibus steht an der grünen Grenze zwischen Kroatien und Bosnien. Dann kommt ein weiterer Kleinbus. In diesen Bussen werden normalerweise Gefangene transportiert. Einer der Polizisten setzt sich eine Sturmhaube auf. Sechs Polizisten sind insgesamt zu sehen. Aus dem Gefangenentransporter steigen 15 Menschen aus. Wer sind sie? Warum waren sie eingepfercht in diesem Kleinbus? Das Rechercheteam versucht sie zu finden, rennt hinter ihnen her und erreicht die Gruppe. Ja, kroatische Beamte hätten sie zurückgeschickt, sagt die 16-jährige Nazila aus Afghanistan.

Nazila (Übersetzung Monitor): "Es war sehr schlimm für uns. Wir waren schon vier, fünf Tage gelaufen, als die kroatischen Polizisten uns geschnappt haben. Wir wollen einfach nur einen Ort zum Leben finden."

Ein anderes Team aus unserer Gruppe macht diese Aufnahmen am Fluss Korana – auf der anderen Seite liegt Kroatien. Plötzlich sind Schreie zu hören. Schreie vor Schmerz. Dann filmt das Team, wie Menschen in den Fluss gestoßen werden. Und dann sind SIE zu sehen. Maskierte Männer in blauen Uniformen ohne jegliche Abzeichen, bewaffnet, brutal. "Go, go, to Bosnia" – geh nach Bosnien – ruft einer von ihnen. Die Geschlagenen laufen unserem Team geradewegs in die Arme. Die Männer kommen aus Afghanistan und Pakistan. Aus Angst und Scham wollen sie nicht erkannt werden.

Mann (Übersetzung Monitor): "Das war sehr schlimm, sie haben jeden sehr hart geschlagen. Schau, unsere Rücken, unsere Arme."

Wer tut so etwas? Wer sind die maskierten Männer? Das kroatische Innenministerium sagt auf Anfrage, man wisse es nicht und wolle den Vorfall prüfen lassen. Wir sprechen mit sechs kroatischen Polizisten, die anonym bleiben wollen, die uns aber Fotos schicken von einer "Unterjacke" der sogenannten kroatischen Interventionspolizei. Eine Sondereinheit, die sonst bei Demonstrationen oder Fußballspielen Randalierer unter Kontrolle halten soll. Wir sehen, die Jacken der maskierten Männer haben ein gestepptes Muster. Genau wie die Jacken der Interventionspolizei. Der Reißverschluss ist gesäumt. Und, beide Jacken haben einen kurzen Reißverschluss an der Seite. Außerdem benutzen die maskierten Männer eine sogenannte "Tonfa" – einen langen Schlagstock, der nur zur Ausrüstung der Interventionspolizei gehört. Wir zeigen unsere Bilder einem ehemaligen hochrangigen kroatischen Polizisten. Für ihn ist die Sache klar.

Željko Cvrtila, ehem. Polizist (Übersetzung Monitor): "Diese Gegend wird von der Polizei extrem stark überwacht von der Polizei – technisch und mit Einheiten. Und es ist schwer vorstellbar, dass irgendeine andere Gruppe in dieser Gegend so agieren kann außer der Polizei."

Wir sind zurück auf dem Feld, wollen wissen, ob jemand etwas von Familie Khureishi gehört hat. Dann plötzlich melden sie sich. Und schicken uns diese Handyvideos aus einem Gefangenentransporter. Sie wissen nicht, wohin sie gebracht werden. Wir suchen sie, doch immer wieder bricht die Verbindung ab. Schließlich finden wir sie nahe der Grenze – auf der bosnischen Seite. Kroatische Polizisten hätten sie diesmal schon nach kurzer Zeit entdeckt, erzählen sie. Sie sind erschöpft und entmutigt.

Niyaz (Übersetzung Monitor): "Jedes Mal, wenn wir zurückgeschickt werden, wird die Hoffnung weniger. Vorhin hatten wir noch Hoffnung. Aber wir können nicht aufgeben. Wir müssen es wieder versuchen."

Reporter (Übersetzung Monitor): "Habt ihr ihnen den Zettel, auf dem Asyl stand, gezeigt?"

Mariam (Übersetzung Monitor): "Ja. Einer warf einen Blick drauf und wandte sich einfach ab. Hat nichts gesagt."

Sie wollen zurück aufs Feld, irgendwie Kräfte sammeln. Um es dann erneut zu versuchen, sagen sie. Überall in der Region begegnen uns Menschen mit ähnlichen Geschichten. Von kroatischen Polizisten, die sie zurückschicken, erniedrigen oder schlagen. Selbst den 10-jährigen Waiz hat ein maskierter Mann geschlagen, erzählt er. Diese Familie – auch aus Afghanistan – hatte es schon weit nach Kroatien hineingeschafft, als sie aufgegriffen und zurück verfrachtet wurde.

Mann (Übersetzung Monitor): "Europa predigt Menschenrechte und ist besorgt darüber, was die Taliban den Menschen in Afghanistan antun werden. Aber wo sind die Menschenrechte hier in Europa?"

Allein zwischen Mai und September dieses Jahres hat unser Rechercheteam elf Pushbacks und 38 Polizisten dokumentiert. Unsere Recherchen legen nahe, dass sie Teil der sogenannten "Operation Korridor" sind. Polizeieinsätze, die "illegale Migration" verhindern sollen. Polizeieinsätze, die auch von Deutschland unterstützt werden. Zehn geländetaugliche Allradfahrzeuge, zehn Transportfahrzeuge und zehn Wärmebildkameras hat Deutschland der kroatischen Grenzpolizei in den letzten zwei Jahren geschenkt. Auf Nachfrage, ob die Bundesregierung garantieren könne, dass diese Ausrüstung nicht für illegale Pushbacks verwendet werde, antwortet das Bundesinnenministerium – nicht. Die EU-Kommission hat in den letzten sieben Jahren die kroatische Grenzsicherung mit 163 Millionen Euro mitfinanziert. Über die Ergebnisse unserer Recherchen sei man schockiert, sagt EU-Kommissarin Johansson heute auf einer Pressekonferenz.

Ylava Johansson, EU-Innenkommissarin (Übersetzung Monitor): "Ich bin extrem beunruhigt über die Berichte, die gerade veröffentlicht wurden. Aber ich bin froh, dass die kroatische Regierung gemeinsam mit der EU-Kommission nun einen unabhängigen Mechanismus zur Beobachtung eingerichtet hat. Und ich erwarte, dass die kroatische Regierung diese Fälle aufklärt."

Erik Marquardt (B'90/Grüne), EU-Abgeordneter: "Dieser Mechanismus ist ein Feigenblatt. Es ist so, dass die kroatische Regierung kontrolliert, welche Organisation dort wo hingehen dürfen. Sie müssen das dann ankündigen. Und auch das Geld für diesen Mechanismus fließt an die kroatische Regierung, die ja nun mehrfach … vielfach gezeigt hat, dass sie gar kein Interesse an Menschenrechtsbeobachtung hat."

Auf dem Feld bei Velika Kladusa harren die Flüchtlinge weiter aus. Die ständigen Versprechen der EU, die Menschenrechte einzuhalten – davon haben sie hier nichts mitbekommen. Auch Familie Kureishi nicht. Es ist kalt geworden, die Temperaturen sinken bereits. Die Hoffnung aufgeben wollen sie dennoch nicht.

Niyaz (Übersetzung Monitor): "Wir haben nur ein Ziel, wir müssen aus dieser Situation hier raus. Wir werden alles versuchen – egal auf welchem Weg."

Georg Restle: "Immer wieder neue Versprechen, immer wieder leere Versprechen, und immer wieder neue Enttäuschungen. Bald wird es in diesem Land eine neue Bundesregierung geben, mit Parteien vermutlich, die sich gerne als sozial, humanistisch und rechtsstaatlich bezeichnen. Wir sind gespannt, ob es dann auch tatsächlich zu einer anderen, humaneren Politik an den europäischen Außengrenzen kommt."

Kommentare zum Thema

  • Anonym 10.10.2021, 20:17 Uhr

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  • Jolanda körbel 09.10.2021, 18:30 Uhr

    Ich schäme mich für die Spezies Mensch! Ich finde keineWorte.

  • Lars 08.10.2021, 20:02 Uhr

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