MONITOR vom 27.09.2018

Flüchtlinge in Libyen: Retter und Beobachter unerwünscht

Bericht: Shafagh Laghai, Steen Thorsson

Flüchtlinge in Libyen: Retter und Beobachter unerwünscht Monitor 27.09.2018 07:28 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste

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Georg Restle: „Europa tut gerade alles dafür, keinen einzigen Flüchtling mehr an Land kommen zu lassen. Und dafür ist jetzt jedes Mittel Recht. Auch wenn es Unrecht ist. Das gilt nicht nur für die Türkei, sondern für das gesamte Mittelmeer. Dort ist jetzt dem letzten privaten Seenotrettungsschiff die Zulassung entzogen worden. Mit einer offensichtlich rechtswidrigen Begründung. Aber Recht scheint für die europäischen Staaten schon lange kein Kriterium mehr zu sein, wenn es nur darum geht, die lästigen Flüchtlingshelfer endlich loszuwerden. Und damit auch die letzten unabhängigen Augenzeugen eines Unrechts, das zum Himmel schreit. Shafagh Laghai, Steen Thorsson und Nikolaus Steiner über die wahrscheinlich letzte Fahrt der Aquarius 2.“

Die Aquarius 2, bei ihrem vermutlich letzten Einsatz. Noch vor vier Tagen hatte das Schiff 58 Flüchtlinge im Mittelmeer gerettet. Sie sind erleichtert, dass sie überlebt haben. Und dass sie von zivilen Seenotrettern und nicht von der libyschen Küstenwache aufgegriffen wurden. Doch jetzt hat die Aquarius ihre Zulassung verloren, auf Druck der italienischen Regierung. Das letzte zivile Rettungsschiff im Mittelmeer. Was das bedeutet, davon können sie berichten: Überlebende eines Schiffunglücks, das sich am 1. September vor der libyschen Küste ereignet hat. Es gibt keine Bilder, aber sie haben Mitarbeitern von Ärzte ohne Grenzen von dem Unglück erzählt:

1. Frau (Übersetzung Monitor): „Wir haben die Europäer gerufen, aber sie kamen uns nicht zu Hilfe. Fünf Stunden, zehn Stunden waren wir im Wasser. Kinder sind gestorben, ganze Familien sind ertrunken. Es ist sehr traurig, wirklich sehr traurig.“

2. Frau (Übersetzung Monitor): „Es sind mehr als hundert Menschen gestorben. Wir waren viele. Ich habe meinen Mann verloren. Aber was hätte ich tun können? Ich hatte selber keine Rettungsweste. Aber ich konnte mich an einer Frau festhalten, die eine anhatte. Nur so habe ich überlebt.“

Von solchen Vorfällen kann auch Tamino Böhm berichten. Er ist Einsatzleiter der letzten Flug-Aufklärungs-Mission. Zwei Flugzeuge gab es mal. Einem wurde Flugverbot erteilt. Mit dem anderen haben sie letzte Woche ein Schlauchboot gesichtet, das neun Stunden lang auf offener See umherirrte, ohne dass jemand zu Hilfe kam.

Tamino Böhm, Sea Watch: „Da wird stundenlang nicht gerettet, die libysche Küstenwache, die sogenannte, ist stundenlang nicht erreichbar, nicht telefonisch, reagiert auf keine E-Mails, nichts. Mit allen Mitteln soll gerade versucht werden, dass zivile Seenotretter, darunter auch wir mit unserem Flugzeug, aber auch mit unseren Schiffen, verdrängt werden aus der Seenotrettungszone, damit wir eben keine Zeugen mehr sein können, was passiert. Und dadurch entsteht eine totale Blackbox.“

Genau das bestätigt auch die IOM, die Agentur für Migration der Vereinten Nationen. Die zentrale Stelle zur Erfassung der im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlinge. Ohne die privaten Seenotretter fehlt ihnen jetzt eine wichtige Quelle.

Julia Black, IOM (Übersetzung Monitor): „Das macht uns große Sorgen. Das Mittelmeer wurde in den letzten Jahren sehr gut überwacht und wir hatten einen soliden Überblick darüber, was dort passiert. Aber wenn es die Informationen nicht mehr gibt, bedeutet es, dass Menschen verschwinden werden, ohne dass wir eine Spur von ihnen haben.“

Keine zivile Seenotrettung, keine unabhängigen Zeugen. Aber warum wurde der Aquarius die Zulassung entzogen? Das Schiff fuhr zuletzt unter der Flagge von Panama. Nach Angaben von panamaischen Behörden habe Italien politischen und wirtschaftlichen Druck ausgeübt. Daraufhin wurde dem Schiff die Flagge entzogen.

Florian Westphal, Ärzte ohne Grenzen: „Die Italiener hätten sich beschwert, dass der Kapitän der Aquarius der Anweisung nicht Folge geleistet hätte, die Geretteten wieder nach Libyen zu bringen. Und das hat er nicht getan aus ganz logischem Grunde, weil das illegal gewesen wäre, denn in Libyen wären diese Menschen dem Risiko von Inhaftierung, von Misshandlung und womöglich sogar Folter ausgesetzt gewesen und das ist nach internationalem Recht nicht machbar.“

Sie hätten die Flüchtlinge an die libysche Küstenwache, die LCG, übergeben sollen. Die seien jetzt für die Rettung von Flüchtlingen zuständig. Viele von ihnen sind ehemalige Milizen. Seit drei Jahren werden sie von Italien, der EU und auch Deutschland ausgebildet und ausgerüstet, damit sie „professioneller“ werden. Doch in einem UN-Bericht von diesem Monat gibt es neue, schwere Vorwürfe gegen die LCG:

Zitat: „Während ihrer Rettungsaktionen hat die LCG Berichten zufolge bewusst Boote versenkt, indem sie Schusswaffen benutzen.“

Boote werden versenkt anstatt die Menschen an Bord zu retten. Die Überlebenden werden dann auch hierher gebracht. Nach Tripolis, Libyens Hauptstadt. Diese Bilder sind von dieser Woche. Zurzeit toben zwischen rivalisierenden Milizen die heftigsten Kämpfe seit Jahren. Einige der Flüchtlingslager befinden sich inmitten der Kampfzonen. Die Flüchtlinge, die im Mittelmeer aufgegriffen werden, werden in so genannte „detention center“ - Gefangenlager - gebracht. Es ist so gut wie unmöglich, Bilder aus diesen Lagern zu bekommen. Diese aktuellen Fotos wurden uns von Ärzte ohne Grenzen geschickt. Eine der wenigen Organisationen, die noch Zutritt haben. Seit Jahren ist bekannt, dass die Menschen hier Misshandlungen, Vergewaltigung oder Folter ausgesetzt sind. Die EU betont, die Lage würde sich verbessern. Ärzte ohne Grenzen widersprechen dem. Und auch die Vereinten Nationen. Sie bezeichnen alle Einrichtungen als „alptraumhaft“ und „inhuman". Der aktuelle Bericht des UNHCR widerspricht der EU mit deutlichen Worten:

Zitat: „Der UNHCR fordert Staaten auf, Menschen, die auf See aufgegriffen oder gerettet wurden, nicht nach Libyen zurück zu bringen.“

Die EU setzt trotzdem weiter auf die Zusammenarbeit mit der libyschen Einheitsregierung. So wie auch Deutschland. Dabei ist sich die Bundesregierung über die Menschenrechtsverletzungen in Libyen bewusst. Auf eine „Kleine Anfrage“ antwortet sie, man habe Kenntnis von „inoffiziellen ‚detention centers‘“. Dass es bei „Einsätzen der libyschen Küstenwache […] zu Anwendung von Gewalt“ kommt. Und es „Zusammenarbeit von Angehörigen der libyschen Küstenwache mit Angehörigen von Strukturen der Organisierten Kriminalität“ gibt. Doch diese Antworten wurden als “Verschlusssache” eingestuft, sollten geheim gehalten werden. Begründung:

Zitat: „Aus Gründen des Staatswohls […], da eine Offenlegung für die Sicherheit und die Interessen der Bundesrepublik Deutschland nachteilig sein kann.“

Die Wirklichkeit - unter Verschluss, aus Gründen des Staatswohls. Und keine Zeugen mehr. So sieht sie aus: die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung.

Georg Restle: „Menschenrechtsverletzungen als Verschlusssache. Das Auswärtige Amt ließ uns heute nochmals wissen, dass die Einstufung deshalb unbedingt erforderlich gewesen sei, weil die Kenntnisnahme solcher Informationen für die Interessen dieses Landes nachteilig sein könnte.“

Kommentare zum Thema

  • Michael 14.10.2018, 15:02 Uhr

    "chriss",dann wandere doch nach Afrika aus! Ihr seit gegen alles,habt aber nix anzubieten. Nur heiße Luft!

  • M. Steckel 04.10.2018, 14:16 Uhr

    Das ist Meinungs- und Beurteilungsvielfalt, und die ist zum Glück für alle politischen Lager in der EU geben. In dem Beitrag vermag ich keinen Rechtsbruch der EU zu erkennen. Und es gibt keine Pflicht, „alles“ wissen zu wollen, insb., wenn es um ansonsten so viele Unkosten ginge - endlich kehrt dazu wieder Haushaltsdiziplin in der EU und Deutschland ein.

  • sigrid 01.10.2018, 09:17 Uhr

    Zitat,„Weniger Helfer bedeuten mehr Tote“ – sind von der Realität Lügen gestraft worden. Selbst die Taz musste in einem aktuellen Artikel zum Thema folgende Angaben machen: „Das harte Vorgehen der libyschen Behörden gegen Flüchtlinge und private Seenotnetter im zentralen Mittelmeer wird nach Ansicht von Sea-Eye-Sprecher Hans-Peter Buschheuer dazu führen, dass weniger Menschen flüchten und ertrinken.“ „Nach NGO-Abzug // Seit 22 Tagen keine Todesopfer auf Mittelmeerroute“. In dem Artikel heißt es – die Fakten geflissentlich ignorierend – weiter: „Von der Mittelmeerroute sind seit drei Wochen keine Todesopfer gemeldet worden – und das, obwohl viele NGOs ihren Einsatz zwischendurch gestoppt hatten.“ „Weniger Helfer bedeuten mehr Tote“ – sind von der Realität Lügen gestraft worden. „Der Sprecher der Hilfsorganisation „Es wird jetzt erfolgreich verhindert, dass die Menschen aufs Wasser gehen und die Flucht wagen. Das bedeutet natürlich auch, dass weniger Menschen ertrinken"!

    • chriss 01.10.2018, 17:47 Uhr

      Nur weil die Menschen dann woanders als im Mittelmeer sterben, in der Wüste z. B. heißt es noch lange nicht, dass es weniger werden. Wir hier bekommen das halt nur nicht mehr mit. Genauso wie man verdrängen kann, dass unser Wirtschaftssystem Existenzen vernichtet.